1951

Natürlich ist das Festival Tanz im August nicht vom Himmel gefallen. Seine Geschichte gehört in die Berliner Stadtgeschichte und beginnt in der Nachkriegszeit. Im Jahr 1951. Damals wurde die internationale Kunstwelt das erste Mal in das vier geteilte Berlin eingeladen – zu den Berliner Festwochen und den Internationalen Filmfestspielen.

Während in Ost-Berlin die sogenannte „Formalismus-Realismus-Debatte“ endgültig auf der obersten politischen Etage angekommen war, das Zentralkomitee der SED im März 1951 dem Formalismus in bildender Kunst, Musik, Bühnenbild und Ballett den Kampf ansagte und den „sogenannten“ Ausdruckstanz als unbegreifbar und unverständlich brandmarkte, sollte in West-Berlin gezeigt werden, was in der Kunst anderswo los war. Wie sich die Kunst entwickelt hatte, als die Deutschen selbst nur noch an das Deutsche in der Kunst glaubten. Der Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter schrieb zur EÖ der Festwochen (und zur Einweihung des Schiller-Theaters) am 5. September 1951:

“Es scheint ein gewagtes Unterfangen, daß wir in Berlin, in dieser unserer bedrängten und noch an den Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit schwer leidenden und gespaltenen Stadt ‘Berliner Festwochen’ veranstalten. Ziemt es denn, so könnte man fragen, Feste zu feiern, wenn die Not der Zeit so unmittelbar auf einer Gemeinschaft und auf den einzelnen lastet? Die Antwort darauf ist ja, auch Festspiele sind nötig und gehören in das Leben unserer Stadt Berlin. ... Deshalb die Berliner Festwochen, um der Welt des Westens und des Ostens zu zeigen, daß Not und Leid, Trümmer und Bedrängnis nicht vermochten, den ewig lebendigen und sprudelnde Quell zum Versiegen zu bringen, der in Theater, Musik und bildender Kunst den Berlinern einen Teil dessen ausmacht, das ihr Leben schön und liebenswert gemacht hat und machen wird.”

Fotografie eines Buchs mit dem Plakat der ersten Berliner Festspielwoche 1951.

Die Festwochen hatten einen politischen Auftrag. Sie sollten „über die künstlerischen Leistungen der westlichen freien Welt selbstbewußt ... informieren und die Stärke pluralistisch-demokratischer Kultur ... zeigen.“ schrieb Ulrich Eckhardt (1973-2000 Leiter der Berliner Festwochen/Festspiele) in seiner kommentierten Chronik.

Fotografie vom Cover des Buchs 50 Jahre Berliner Festspielwochen

Die Festspiele waren laut Eckhardt der „leidenschaftliche Horchposten“ an der Grenze zwischen westlicher und östlicher Weltsicht. Noch war Berlin eine in vier Sektoren geteilte Stadt und noch war es möglich, in allen Sektoren Aufführungen, Konzerte, Kinos und Ausstellungen zu besuchen – das Publikum ein Berliner Publikum:

“Eintrittspreise von 1,- bis 15,- DM, Ostbesucher zahlen den doppelten Preis in Ostmark.”
Aus 50 Jahre Berliner Festwochen, S. 10

Die Berliner*innen waren hungrig – auch auf das Lebensmittel Kunst. Sie strömten (153.000 Besucher) zu den 250 Veranstaltungen. Eingeladen war 1951 auch die deutsche Ausdruckstänzerin Dore Hoyer mit ihrem Programm „Kontraste“ in der Tribüne am Knie (heute Ernst-Reuter-Platz“).

Dore Hoyer (1911–1967) erhielt einen Tag nach ihrem Auftritt in der TRIBÜNE den Deutschen Kritikerpreis überreicht. In der Begründung heißt es:

„Unter allen deutschen Tänzerinnen der Nachkriegszeit ist Dore Hoyer die stärkste Persönlichkeit. ...Was Dore Hoyer in ihrer Kunst vertritt, ist modern, das Wort ohne jedes Pathos und ohne jeden Snobismus gebraucht. (...) Die Aussage in allen ihren Tänzen ist: die Formen des Lebens sind begrenzt, nicht begrenzt ist die Energie.“ 
Hedwig Müller in „Dore Hoyer Tänzerin“, herausgegeben vom Tanzarchiv Köln, S. 45

Fotografie vom Cover des Magazins Die Tribüne in den Berliner Festspielwochen.

Ausschnitt aus Marcel Marceaus “Monsieur Bip chasses les Papillons“

Ebenfalls eingeladen war 1951 ein in Berlin/Deutschland unbekannter Franzose: „Monsieur Bip“, der 28jährige Pantomime Marcel Marceau, kam zum ersten Mal nach Berlin, in das Land, das er als Sohn jüdischer Straßburger in der französischen Resistance bekämpft hatte. Er blieb zwei Monate und begeisterte das Publikum. 

Das Berliner Publikum lag dem ‘beredten’ Pantomimen zu Füßen: “Marceau macht eine neue Kunst, das muss man gesehen haben.” schrieb der Berliner Kritiker Friedrich Luft. Und sein Kollege Herbert Ihering schwärmte: “Marcel Marceau ist einer der größten lebenden Bühnenkünstler, ein Botschafter der Völkerverständigung und des Friedens. Nijinskij grüßt ihn und Chaplin...”

Sein Gastspiel beeindruckte – so könnte es gewesen sein – auch eine junge Frau, die – vielleicht – im Publikum saß. Sie interessierte sich leidenschaftlich für Theater und Musik. 1962 fing sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Akademie der Künste (West) an: Nele Hertling. Marceaus Gastspiel legte über Umwege den Grundstein für eine von der Akademie der Künste ab 1975 veranstalteten internationalen Gastspielreihe: „PANTOMIME MUSIK TANZ THEATER“, kurz PMTT.

Die 1951 ins Leben gerufenen „Berliner Festwochen/Festspiele“ bewiesen bis 1989, neben den anderen großen Kultureinrichtungen wie der Philharmonie, der Neuen Nationalgalerie oder der Staatsbibliothek, die nah an der Berliner Mauer gebaut worden waren, den (Über-)Lebenswillen West-Berlins. Kunst und Kultur zu fördern und zu präsentieren, demonstrierte die westliche Freiheit besser als jede Propagandaschrift und jeder politische Appell über die Mauer hinweg.