Text: Gilles Michiels
Man kann es als Statement sehen: Darsteller*innen, die ihr Publikum mit nach draußen nehmen, um auf der Straße die Revolution zu entfachen. Es gibt nur wenige Aufführungen, die unser Bild vom Mai 1968 mehr geprägt haben als “Paradise Now” der Theatergruppe The Living Theatre. Dreiundzwanzig nackte Darsteller*innen, ständige Gruppenumarmungen und provokante Slogans gegen Krieg und Kapitalismus: Die Performance des Duos Julian Beck und Judith Malina sollte eine vierstündige Reise zum Anarchismus werden.
Kein Wunder, dass die Aufführung sofort als Skandalstück galt. Direkt nach der Premiere im Juli 1968 im französischen Avignon wurden Beck und Malina weitere Aufführungen untersagt. Später versuchten auch die Behörden in Rom, Mailand und Turin, die Theatergruppe loszuwerden. Im bürgerlichen Brüssel musste das Theatergebäude sogar von der Polizei bewacht werden.
Jetzt, fünfzig Jahre später, konfrontieren der Choreograf Michiel Vandevelde und das Produktionszentrum fABULEUS aus dem belgischen Leuven eine neue Generation mit dem explosiven Stück. Das Theater- und Tanzzentrum für Jugendliche hat sich in Flandern viel Anerkennung erarbeitet: 2017 gewann es den flämischen Kulturpreis in der Kategorie Darstellende Kunst. fABULEUS verbindet erfolgreich Jugendarbeit mit künstlerischem Ehrgeiz. Für “Paradise Now (1968–2018)” wurden dreizehn Jugendliche ausgewählt, um eine moderne Adaption von “Paradise Now” zu realisieren. Mit ihnen möchte Vandevelde auf eine der Quellen der Revolution von 1968 zurückgreifen: die ungefilterte Energie der Jugend.
"Paradise Now" der Theatergruppe The Living Theatre
Michiel Vandevelde arbeitet als Choreograf, Kurator, Autor und Redakteur. "Paradise now (1968-2018)" ist bereits seine zweite Kooperation mit der Kompanie fABULEUS.
Doch wie sehen junge Menschen heutzutage Jugendliche in der damaligen Zeit?
In einer Welt, die zusieht, wie soziale Ungerechtigkeit wächst, die Kriegsflüchtlinge ihrem Schicksal überlässt und die Präsident*innen wählt, die die Demokratie verspotten, scheinen die Forderungen der 68er wieder an Dringlichkeit zuzunehmen. Doch das politischen Engagement der flämischen Jugend ist nicht so offensichtlich. Vandevelde ist selbst Aktivist und suchte anfangs nach dem Idealismus seiner Darsteller*innen. “Ich muss zugeben, dass mein erster Eindruck enttäuschend war. Mir ist aufgefallen, dass junge Menschen nicht die Notwendigkeit verspüren, um sofort auf die Barrikaden zu gehen. Zu Beginn war ich darüber ziemlich traurig: Wo ist das Engagement heutzutage?”
“Ich sehe mich keineswegs so radikal wie die Macher*innen von ‘Paradise Now’”, sagt Anton, der Jüngste der Gruppe. “Ich bin vierzehn, in meinem Alter werde ich keine Revolution anzetteln oder für die Demokratie auf die Straße gehen. Aber ich glaube sehr wohl an die kleinen Dinge, die ich tue und an persönliche Entscheidungen, die ich treffe. Ich benutze zum Beispiel keine sozialen Medien. In meinem Alter sind diese eigentlich selbstverständlich, aber das Stück bestärkt mich in meiner Entscheidung.”
Denn passiv ist die junge Generation auf keinen Fall. Im Gegenteil: In den letzten Jahren setzt sie mit Protestveranstaltungen deutliche Zeichen gegen Geschlechterungerechtigkeit, Rassismus und politischen Populismus, wie zum Beispiel mit dem ‘Women’s March’. Allerdings ist ihr Widerstand weniger von Übertreibungen als von Nüchternheit geprägt. “Die Kultur der Hippies ist zwar sehr populär geworden, aber ihre Ideale wurden von den Regierungen nicht umgesetzt”, sagt Anton. “Wir zweifeln daran, ob das in den kommenden fünfzig Jahren anders wird.”
Vielleicht sind junge Menschen in dieser hyperbewussten Gesellschaft darum nicht so idealistisch, ihre persönlichen Entscheidungen hinterfragen sie jedoch umso öfter. Als Reaktion auf grauenvolle Filme aus Schlachthöfen und aus Sorge um das Klima entschließen sie sich häufiger für eine vegetarische oder vegane Ernährungsweise. Flämische Aktionen wie ‘Fleischfreie Tage’ (Dagen zonder Vlees) und ‘Mai Plastikfrei’ (Mei Plasticvrij) versuchen auch weniger konsequente Menschen dazu zu bewegen, ihre Lebensweise zumindest zeitweise zu ändern. Es ist daher auch nicht überraschend, dass Die Grünen (Groen), die einzige politische Partei in Flandern, die das Thema Ökologie ganz oben auf ihre politische Agenda setzt, besonders bei der Jugend sehr beliebt ist.
Zudem hat diese Generation ihre Protestaktionen zum Teil in die digitale Welt verschoben. So diskutierte einer der Darsteller, der 19-jährige Bavo Buys, auf Facebook mit Nutzer*innen, die einen ‘Weißen Marsch’ gegen Flüchtlinge organisieren wollten. Deren Seite wurde später gelöscht. Das scheint nicht viel, aber in einer Gesellschaft, in der sich die Basis für Solidarität verändert, ist ein solches Handeln absolut notwendig.
“Im Nachhinein ist es interessant, dass ich die Ideen zu Aktivismus auf die jungen Körper von meinen Darsteller*innen projiziere”, meint Vandevelde. “Das machen wir als Erwachsene ja öfter. Gleichzeitig geben wir aber jungen Menschen wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Nehmen wir beispielsweise den Klimawandel: Wir schieben ihnen unsere Verantwortung zu, aber bieten ihnen keine Mittel und Wege, mit denen sie grundlegend etwas verändern können, wenn ihre Generation an die Macht kommt.”
Die Projektion auf Jugendliche, von der Vandevelde spricht, ist in “Paradise Now (1968–2018)” ziemlich buchstäblich zu verstehen. Im ersten Teil des Stücks verkörpern die Darsteller*innen fünfzig Momente aus einem halben Jahrhundert Geschichte. Sie tun das wortlos, indem sie in einer Reihe unterschiedlicher Körperhaltungen erstarren. Das Resultat ist ein historisches Mixtape, auf dem die Wahl Donald Trumps und das berühmte Oscar-Selfie mit Ellen DeGeneres und Co. zu erkennen sind. Doch schnell werden die Bilder düsterer: Die atomare Katastrophe in Tschernobyl und der Genozid in Ruanda ziehen vorbei, gleichgültig montiert zwischen popkulturelle Verweise wie Britney Spears und den Hollywoodfilm “Titanic”. Die mächtigen Bilder, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben haben, stehen in scharfem Kontrast zu den fragilen Körpern, die sie zum Leben erwecken.
“In der Aufführung starten wir beim ‘Women’s March on Washington‘ im Jahr 2017, gehen dann zurück ins Jahr 1968 und dann ins Jahr 2018”, erläutert Vandevelde. Als ob er zuerst zeigen möchte, dass die Hoffnungen der 60er-Jahre nicht zu einer besseren Zukunft führten, um danach die damaligen Forderungen des Living Theatre erneut aufzugreifen. Das geschieht im zweiten Teil des Stücks, in dem die Jugendlichen einige Szenen aus “Paradise Now” nachstellen.
Die Konfrontation mit dem aufsehenerregenden Material fühlte sich für die Darsteller*innen anfangs sehr seltsam an. Direkt am ersten Tag wurde die Gruppe mit einer Videoaufzeichnung der Originalaufführung konfrontiert. “Wir hatten Angst, dass wir das Gleiche machen sollten: übereinander kriechen und einander massieren.” Und das war dann auch der Fall. “Ein bisschen unangenehm, wenn man die anderen noch nicht kennt.”
Die Jugendlichen übernehmen nicht nur die Bewegungen, sondern auch die Texte des Originals. ”Stop the war!“, ist im Stück zu hören. Oder: ”Radical thought, for me, is just that: the courage of hopelessness.” Identifizieren sich die Jugendlichen mit diesen Texten? “Das hat nichts mit uns zu tun, denn wir haben ein anderes Weltbild. Was wir im Stück zum Beispiel über Idealismus kommunizieren, entspricht nicht hundert Prozent unserer persönlichen Meinung, sondern wird von den Texten bestimmt. Der Gegensatz zwischen uns Jugendlichen und den Texten mit seinen schwierigen Wörtern ist sehr wichtig.”
Aber das bedeutet nicht, dass sie die Statements einfach übernehmen. “Wenn wir die in einem banalen Gespräch artikulieren würden, wäre das merkwürdig. Wieso würde man denken: Verändere die Welt?” Doch jetzt, da die Jugendlichen diese Statements so konsequent wiederholen, verlieren sie ihre Naivität und ihre Notwendigkeit wird deutlich. “Auch wir möchten ein Stück kreieren, das bei den Menschen ein Gefühl von Dringlichkeit hinterlässt.” Nur entsteht dieses für die Darsteller nicht direkt aus ihren revolutionären Ideen, sondern aus der Kohäsion der Gruppe. Kollektivität kann auch ein Trigger sein. Oder wie Dramaturg Kristof Van Baarle es auf den Punkt bringt: “Auch Aktivismus ist ein Muskel, der sich trainieren lässt.”
Vielleicht waren die intimen Übungen, die die Jugendlichen ausführen mussten, entscheidend für die Entwicklung dieses Muskels. Zu Beginn hatten sie mehr Konkurrenz untereinander erwartet. “Wir befürchteten, dass wir uns darauf fokussieren, wer welche Rolle im Stück erhält. Oder, dass wir uns, so wie in der Schule, beweisen müssen, um zur populären Clique zu gehören. Aber durch die Proben sind wir zu einer Gruppe geworden, in der vieles möglich ist. Sarah hat jetzt die meisten Texte bekommen und Jarko ist auf dem Werbeplakat abgebildet. Alle sind damit einverstanden. Gerade, weil wir alle unterschiedlich sind, können alle ihr individuelles Talent einbringen. Das sollte unser Traum von der Gesellschaft sein”, sagt Lore lachend: “Voneinander lernen!”
Durch das Zusammengehörigkeitsgefühl müssen die provokanten Slogans auch nicht unbedingt aggressiv rüberkommen, meinen die Jugendlichen. “Das Ende der Aufführung wird den Eindruck in jedem Fall mildern. Wir bitten das Publikum, sich uns anzuschließen und teilzunehmen. Wenn jemand auf die Bühne kommt, rücken wir ein bisschen enger aneinander. Auf diese Weise kommen wir alle zusammen und sprechen über ein ‘Wir’, über eine Gemeinschaft, zu der alle gehören. Es herrscht eine sichere Atmosphäre, am Ende überwiegt die Aufmerksamkeit gegenüber den Mitmenschen.”
Das Stück glaubt mehr an den Wert der einfachen menschlichen Kontakte als an die fordernde, schonungslose Revolution des Brüllens. “Natürlich möchten wir das Publikum aktivieren. Wir denken auch, dass Veränderung und Widerstand notwendig sind, aber wir wollen das mit allen gemeinsam realisieren. Wie bei der Occupy-Bewegung reichen wir das Mikrofon an das Publikum weiter und lassen dieses selbst zu Wort kommen. Zugegeben: Die Chance, dass Menschen diese Gelegenheit nutzen ist sehr gering, aber die Einladung dazu ist auf jeden Fall da.”
Für die Darsteller*innen hat “Paradise Now (1968–2018)” schon jetzt etwas verändert: “Seit der ersten Aufführung bin ich etwas umweltbewusster”, sagt jemand. “Durch die Teilnahme an diesem Projekt bin ich selbst aktiver geworden”, ist eine weitere Reaktion. “Ich denke, dass die Menschen, die unser Stück sehen, diesen Drive auch mitnehmen.”
Angefangen mit den Eltern der Darsteller*innen. “Es war schon lustig, in einem Bauerndorf zu erzählen, was wir machen”, sagt Jarko Bosmans. “Für meine Eltern ist Theater gleichbedeutend mit Shakespeare und Tanz ist für sie Ballett. Als ich von ‘Paradise Now (1968–2018)‘ erzählte, dachten sie, dass ich an einem satanischen Ritual teilnehmen würde. Jetzt habe ich sie soweit, dass sie sich das Stück ansehen werden. Hoffentlich öffnet ihnen das die Augen.”
Im August kommen die Jugendlichen nach Berlin, um hier die Revolution in Gang zu setzen. “Wir fliegen aber mit dem Flugzeug”, sagen sie direkt. “Es ist schon ironisch, dass wir auf der Bühne stehen und rufen: ‘Stop wasting the planet’! Eigentlich müssten wir mit dem Fahrrad fahren! Oder zu Fuß gehen!”
Übersetzt aus dem Niederländischen von Kathrin Bunge.