Bei Tanz im August bringen sich B-Boys von vier Kontinenten in Stellung
Text: Thomas Hahn
Text: Thomas Hahn
Mourad Merzouki ist heute 45 Jahre alt, Bruno Beltrão 38 und Nick Power wiederum einige Jahre jünger als der Brasilianer. Jeder von ihnen kam auf seine eigene Art zum Hip-Hop, jeder mit den Mitteln seiner Zeit. Die Altersunterschiede sind gering, doch entscheidend. Das Aufeinandertreffen der drei bei Tanz im August zeigt nun, wie sehr die rasante Entwicklung der Medien in der Verbreitung des Hip-Hop eine entscheidende Rolle spielte: Zum ersten Mal wurde eine Tanzkultur nicht über Tanzschulen, sondern über Medien verbreitet, und das weltweit. So ist die Geschichte des Hip Hop auch eine des Zusammenwachsens von Bildschirmen und choreografischem Schaffen.
Wir sind in den 1980ern. Mourad Merzouki und seine Freunde, darunter ein gewisser Kader Attou, der heute wie Merzouki ein französisches Centre Choréographique National leitet, wachsen in Saint-Priest auf, einer Banlieue von Lyon, wo ein Jugendpfleger sie in seiner Zirkusschule aufnimmt. Sie träumen davon, die staatliche Zirkusakademie zu durchlaufen. Und sie lieben eine populäre Unterhaltungssendung auf TF1, moderiert von Patrick Sabatier. Eines Tages tritt dort Michel Sardou auf, die Chanson- Legende, und gleich danach, zur Überraschung und Begeisterung der Kids aus Saint-Priest, ihr Zirkus-Lehrer. Er dient hier als Vertreter normaler Bürger*innen, die Besonderes leisten und damit auch den Namen der Show rechtfertigen: “Tous à la une”, was so viel bedeutet wie: Alle auf die Titelseite! Doch die Begeisterung schlägt in Bestürzung um. Denn als sich der Vorhang öffnet und die Kinder aus Saint-Priest ihre Kunststücke aufführen, laufen nur welche namens François, Patrick oder Marie auf die Bühne. Die Mourads, Kaders oder Mohammeds wurden nicht eingeladen. Etwa gleichzeitig, 1984, taucht auf TF1 der erste Schwarze Moderator und DJ im französischen Fernsehen auf, und wird mit seiner Show aus Tanzkurs und Konzert zur Legende. Sidney nennt er sich bis heute, und seine Sendung “H.I.P.-H.O.P.” sorgt dafür – obwohl sie nur eine Saison lang ausgestrahlt wird –, dass überall im Land die Jugendlichen der Banlieues smurf, locking, popping, breakdance etc. erlernen. Infolge der traumatischen Erfahrung mit “Tous à la une” geben die beiden Einwandererkinder ihren Traum von der Zirkuslaufbahn auf. Ihnen wird klar, dass sie in einer geteilten Gesellschaft leben und sie beschließen, sich mithilfe des Breakdance auszudrücken. 1989 gründen Merzouki, Attou und Freunde ihre erste Hip-Hop-Kompanie, Accrorap. Doch erst als sie während des Kriegs in Bosnien für Kinder in einem Flüchtlingscamp tanzen, begreifen sie, welches Potenzial in ihrem Tanz steckt, wieviel positive Energie sich über Hip-Hop weitergeben lässt. 1996 verlässt Merzouki Accrorap und gründet sein eigenes Ensemble: Compagnie Käfig.
Attou und Merzouki blieben zwar Freunde, doch erst heute finden sie beruflich wieder zusammen, als Choreografen von “Danser Casa”, einem Stück mit B-Boys aus Casablanca in Marokko. Denn wie in allen Metropolen der Welt hielt auch dort via YouTube das B-Boying Einzug. So setzt Merzouki mit jedem seiner Stücke ein Zeichen. In “Pixel” schlägt er Brücken zwischen Hip-Hop, digitaler Kunst, virtuellen Welten und einer neuen Vielfalt urbaner Kultur. Tänzer*innen und Skate- Akrobat*innen müssen sich auf einem Boden bewähren, in dem sich ständig virtuelle Löcher auftun und der ihnen durch Animationen sozusagen unter den Füßen weggezogen wird. Diese Animationen sind das Werk der Medienkünstler*innen Adrien Mondot und Claire Bardainne. Sie verbinden interaktive Installationen mit Tanz und neuem Zirkus. Adrien Mondot ist seinerseits bekannt als Erfinder der virtuellen Jonglage, einer Verbindung von Zirkuskunst und interaktiven Bilderwelten. Mit “Pixel” gelang Merzouki sein bisher größter Publikumserfolg seit “Récital”, das mit mehreren hundert Aufführungen weltweit für Furore sorgte und 1996 den Hip-Hop zu einer choreografischen Kunstform aufwertete. Ab diesem Moment gab es offiziell zwei Sphären im Hip-Hop: Die der Bühnenkunst und jene der Battles und Rituale im Kreis.
Zu der sozialen Komponente, die in Frankreich untrennbar mit den urbanen Tänzen aus der Banlieue verbunden ist, gehört aber auch der Export von choreografischer Kompetenz, gerade im Hip-Hop und im neuen Zirkus. Immer wieder gehen Choreografen wie Aurélien Bory, Abou Lagraa oder eben Mourad Merzouki auf Artisten oder B-Boys zu, die in anderen Kontinenten auf der Straße tanzen, und sich technisch stark entwickeln, aber keine Erfahrung in kollektiver und choreografischer Arbeit sammeln können.
Es ist die Mission der ‘Merzoukis’ in der globalen Community der urbanen Kulturen, den Hip-Hop an diesen Peripherien auf eine neue Stufe zu heben und das Talent der dortigen Breaker*innen ins Rampenlicht zu führen. 2008 scharrte er zehn B-Boys aus den Favelas von Rio de Janeiro um sich, die nie zuvor das Prozedere von gemeinsamen Proben und zielgerichteter Arbeit kennengelernt hatten. Leicht fiel es ihnen nicht, aber so entstand “Agwa”, ein sehr vitales, konzentriertes und strukturiertes Dreißig-Minuten-Stück, das alle Anstrengungen rechtfertigte. Seitdem überlieferte Merzouki zwei Stücke aus seinem Reper toire an die Breaker*innen aus Rio und machte sich 2017 auf nach Kolumbien, wo er seinen Klassiker “Récital” für dortige Straßentänzer*innen neu auflegte.
Merzouki war sechzehn Jahre alt, als er mit Attou und Freunden Accrorap gründete. Genau dieses Alter hatte auch Bruno Beltrão, als er mit seinem Freund Rodrigo Bernardi in Niterói, einer Vorstadt von Rio de Janeiro, seine Grupo de Rua ins Leben rief. Seine Truppe, mit vollem Namen Grupo de Rua de Niterói, war jedoch zuerst eine Battlesquad reinsten Stils, bevor Beltrão ab 2000 choreografische Ambitionen entwickelte. Anschub durch Zusammenarbeit mit europäischen Choreografen brauchte es dafür nicht. Längst verbreitete sich Tanzkultur über das Internet. Und natürlich hatte Beltrão die Hip-Hop-Szene zuerst über Videos entdeckt, zu einer Zeit, da sich der Hip-Hop als Autorentanz etablierte. Dass Beltrao sich ursprünglich der Kreation von Animationsfilmen in 3D widmen wollte, machte ihn erst recht empfänglich für die neuen Medien, und es half ihm auch, die Bewegungsmuster der B-Boys neu zu interpretieren und zu imaginieren – ähnlich wie Merce Cunningham zur gleichen Zeit mit dem Animationsprogramm “Life Forms” neue Beziehungen zwischen Körper, Gleichgewicht und Schwerkraft entwickelte. Und während Hip-Hop-Choreograf*innen in Frankreich immer abstraktere, künstlerisch offenere Bühnenkonzepte umsetzten, verankerte Beltrão seine Recherchen bei aller stilistischen Evolution weiterhin in der sozialen Realität der Favelas. Mit “H2” und “H3” etablierte er sich als führender Erneuerer des Genres. Seine Dekonstruktion der B-Boy-Ästhetik verwandelte die Körper der Breaker*innen in rastlose Schemen und hinterfragte so ihre Existenzberechtigung im Alltag.
Mittlerweile traten die sozialen Medien auf den Plan und die Videoplattformen im Internet entwuchsen ihrer Rolle als Vektor zur Verbreitung von Tanzkulturen, die auf der Straße entwickelt wurden. Neue Generationen von Jugendlichen schufen neue urbane Formen wie den Jumpstyle, die direkt für die Videoforen erdacht sind: Die sogenannten Post-Internet-Tänze. 2013 machte Beltrão genau das zum Thema seines Stücks “CRACKz” und wies seine Interpreten an, ihr choreografisches Ausgangsmaterial auf YouTube und Vimeo zu sammeln. So gab er einen Teil seines Stils auf, der ihm sogar einen New Yorker Bessie Award eingebracht hatte. Mehr noch: Indem er die Tänzer anwies, ständig nach neuem Material zu suchen, legte er “CRACKz” als ein permanent unvollendetes, sich im Wandel befindendes Stück aus. Doch nach den ersten Vorstellungen kanzelte ihn die Kritik brutal ab, und auch eine spätere Erneuerung des Stückes half ihm nicht. “CRACKz” tourte, für Beltrãos Verhältnisse, wenig.
Für “INOAH” kehrte er zu seiner auf Improvisation basierenden Stückentwicklung zurück und zu der bestechenden Präzision, den Salti und zu den runden Laufwegen, derentwegen man in ihm sogar eine Art Anne Teresa de Keersmaeker des Hip-Hop erblicken kann. “INOAH” bedeutet in der Sprache der Tupi-Indianer ‘hohe Gräser’ und ist der Name des Stadtviertels bei Niterói, in dem Beltrão mit zehn Tänzern das Stück erarbeitete. Thema sind hier nicht die Lebensbedingungen in den Favelas, sondern die Entbehrungen und Gefahren, denen sich Migrant*innen ausgesetzt sehen. Auf der Bühne entlädt sich das spektakulär, in artistischen, geradezu kämpferischen Figuren, die von unbedingtem Überlebenswillen zeugen.
Die ersten Kontakte des jungen Australiers Nick Power mit der Bewegung waren identisch mit denen von Beltrão: “Ein Freund aus Melbourne hat mir Aufnahmen gezeigt von Ice Cube, Public Enemy und anderen, und ein Graffiti-Magazin.” Doch es kann in der Hip-Hop-Galaxie keine entlegenere Peripherie geben als eine Kleinstadt des fünften Kontinents. “Ich komme aus einer kleineren Stadt namens Toowoomba und hab in den frühen 90ern mit Hip-Hop angefangen. Ich hab Breakdance mit alten Schulaufnahmen von B-Boys aus Brisbane gelernt. Es war die beeindruckendste Tanzform, die ich jemals gesehen hatte. Aber ich war der einzige B-Boy der Stadt.” Nick breakt so ausgiebig wie jeder B-Boy dieser Welt, und das “in Tanzkompanien, die Straßentheater und Hip-Hop-Shows machen.” Doch deren Ambitionen reichen ihm nicht: “Ich wollte unbedingt meine eigenen Sachen entwickeln. In Australien gab es keine Choreograf*innen, die Hip-Hop in Theaterstücke oder zeitgenössischere Formen integrierten.” Ein Stipendium des Australia Council for the Arts brachte die entscheidende Wendung. 2012 verbrachte Nick drei Monate in und um Paris. “Das ist das Zentrum des künstlerischen Hip-Hops, da finden riesige Battles statt. Das war das erste Mal, dass ich mir keine Sorgen mehr machen musste wegen Geld, keine Workshops und so mehr geben musste. Ich hab gebattlet, trainiert und konnte mich wirklich dem Tanz widmen.”
Es gibt anscheinend doch noch Begegnungen und Freiräume, die nicht über das Internet ins Wohnzimmer rauschen, sondern nur vor Ort erfahrbar sind. In Paris traf er die Hip-Hop-Choreografin Anne Nguyen, eine der profiliertesten Vertreter*innen der neuen Generation. “Anne war sehr offen und hilfreich. Ich hab mit ihr geprobt und bin mit ihrer Kompanie getourt, dabei habe ich viel von ihr gelernt. Ich habe jetzt eine ganz andere Herangehensweise an Tanz. Ich hatte auch die Möglichkeit viele Vorstellungen zu besuchen und an Konferenzen teilzunehmen. Als ich Paris dann verließ, wusste ich genau, was ich kreieren wollte.”
Und das war “Cypher”, sein Stück über das Ritual der B-Boys im Kreis. Nun folgt “Between Tiny Cities”, ein Duo mit Aaron Lim aus Darwin und Erak Mith aus Phnom Penh, das praktisch zwei Kontinente vereint. “Ich hab Aaron Lim, von der Kompanie D-City Rockers, kennengelernt und wir wurden dann mit Tinytoones verbunden, das ist ein Hip-Hop-Verein aus den ärmeren Gegenden von Phnom Penh. Dort wird Hip-Hop unterrichtet, aber auch Grammatik, Mathematik, etc. Über 100 Schüler*innen, die sonst nicht zur Schule gehen könnten, gehen dort hin. Erak Mith ist ein ehemaliger Schüler von Tinytoones und unterrichtet dort nun Tanz. Es geht in der Show darum, wie sie durch die Battles zusammenkommen. Sie ist im Rahmen von einem interkulturellen Austausch zwischen D-City Rockers und Tinytoones über drei Jahre hinweg entstanden. Daher auch der Titel ‘Between Tiny Cities’.”
Nimmt man Merzoukis jüngste Arbeit in Marokko hinzu, verbinden die drei Choreografen Hip-Hop von allen fünf Kontinenten.
In dem 3-tägigen Workshop “Power Moves” von Nick Power, Aaron Lim und Erak Mith tauchst du in die Welt des Hip-Hop ein. Du lernst die Basics, die es braucht um deinen Style zu finden, übst die technischen Moves, Rolls, Tricks und Flips des Breakdance – und wirst selber Choreograf*in, wenn du mit Nick, Aaron und Erak die choreografischen Ideen des Stücks “Between Tiny Cities” erkundest.
16.–18.8., 14:00–17:00 | HAU3 Houseclub
Alter 14–19
Workshopsprache Deutsch & Englisch
Anmeldung unter begleitprogramm@tanzimaugust.de
Teilnahme kostenfrei
max. 20 Teilnehmer*innen