Essay: Andrej Mircev
Essay: Andrej Mircev
Die diesjährige Ausgabe von Tanz im August findet in einer komplexen historischen Konstellation statt, neben dem 30. Geburtstag des Festivals wird dieses Jahr der 200. Geburtstag der Geburt von Karl Marx gefeiert und 50 Jahre sind vergangen seit den Arbeiter*innen- und Studierendenaufstände in Frankreich im Jahr 1968. Als ich von Tanz im August eingeladen worden bin, mich an den Gesprächsformaten des Festivals als Moderator zu beteiligen, bewegten mich der gegebene historische Kontext und die Gelegenheit, darüber in Beziehung zu den eingeladenen Projekten nachzudenken. Sieht man von der Spannung zwischen verschiedenen Regimen der Zeitlichkeit ab, die einerseits der Choreografie und andererseits der Geschichte innewohnen, so lohnt es sich, die Überschneidungspunkte auszumachen, um das diskursive Potential dieser Begegnung zu artikulieren. In anderen Worten: Das Ziel der On the Sofa Diskussionen "What remains? On Archives and Dance" und "1968 – Promise of Collectivity" ist es, einen Dialog anzustoßen über das soziale und politische Verständnis von Tanz als Verkörperung der komplizierten Dialektik dieser bewegten Jahrzehnte und der unimaginierten Zukunft, die zurzeit wenig vielversprechend scheint.
Archive und Tanz stehen demzufolge in keinerlei Widerspruch zu einander, sondern existieren in einem dynamischen und fragilen Verhältnis.
Im Gegensatz zur (Fehl)Annahme, laut der sich Tanzvorstellungen jeglicher Form der Archivierung entziehen und nur in Form von Ansammlung, Erschöpfung und Abwesenheiten existieren, möchte die Diskussionsrunde über Archive das Thema in ein anderes Licht stellen. Anstatt die Archivierung nur als ‘Hausarrest‘ lebloser Akten und Dokumente zu sehen, geht es darum die (falschen) Dichotomien Anwesenheit/ Abwesenheit live/vermittelt neu zu denken, und sowohl die performativen Elemente des Archivs als auch die immanent archivalischen Impulse des Tanzes zu betrachten. Zu betonen, dass Tanz nicht verschwindet, sondern aus unterschiedlichen somatischen und konzeptuellen Spuren besteht, beinhaltet die Möglichkeit des Festhaltens, des Wissens und des Schreibens. Archive und Tanz stehen demzufolge in keinerlei Widerspruch zu einander, sondern existieren in einem dynamischen und fragilen Verhältnis. Das Tanzen zu vergessen – könnte man behaupten – kommt dem Vergessen der eigenen Fähigkeit gleich, sich frei zu bewegen, und mit Bewegungen die ungedachte Utopie des Zusammenseins hervorzubringen.
Während die Diskussion über seine Archivierung die vergängliche Körperlichkeit von Tanz verhandelt und sich auf die Fragen konzentriert, wie Tanz gerettet, wiederhergestellt und gepflegt werden kann, kartografiert die Diskussion "1968 – Promise of Collectivity" Erinnerungen einer ‘sozialen Choreografie’ der 68er Revolution. Indem verschiedene Perspektiven und Beispiele miteinander verbunden und generationsübergreifende Erfahrungen nebeneinander gestellt werden, soll das Konzept des Kollektiven reflektiert werden und die Art und Weise, wie es vereitelt und ausgehöhlt wurde durch die rückschrittlichen soziopolitischen Entwicklungen der letzten 50 Jahre, die narzisstischen Individualismus anstatt kollektivem Handeln förderten. Andererseits möchte das Gespräch die Frage aufwerfen, inwiefern das revolutionäre Erbe heute noch in der Politik sich bewegender Körper nachhallt. Wie können wir uns die Choreografie einer bevorstehenden Revolution vorstellen? Könnte es die Gestalt einer Bewegung im Raum annehmen, befreit von Angst und Hoffnungslosigkeit?
Obwohl man auf den ersten Blick glauben könnte, dass die beiden Themen (Archivierung und 68er Revolution) nicht viel gemeinsam haben oder sich nicht überschneiden, signalisierten die Ereignisse von 1968 ein Wendepunkt für die Art und Weise, wie Erinnerung und Geschichte verstanden, rekonstruiert und gehandhabt werden. Angesichts des politischen und kulturellen Nachkriegsklimas trifft dies besonders für ein Land zu, das in Ost und West aufgeteilt war und auf dessen Schultern die Schuld der Nazi-Verbrechen lastete. In seiner Publikation zu 1968 verzeichnet Oskar Negt, einer der großen Denker der linken deutschen Intelligenzija: "Das Jahr 1968 [...] ist weder eine Revolution noch eine eiternde Wunde, ein Verbrechen; es ist eine Zeit der ungelösten Probleme." Laut Negt liegen manche Aspekte des Problems in der Dialektik von Erinnern und Vergessen begründet und er betont, dass eins der positiven Ergebnisse der verstärkte "Kampf für historische Legitimation" war, der mit dem patriotischen Begriff von Geschichte bricht und die fragile Erinnerung subalterner Gruppen sichtbar macht, die zu Gunsten des historischen Andenkens (konservativer) Staatsideologien verdrängt wurde. Das fragile Tanzarchiv ist solch eine ‘Gegen-Erinnerung’ unsichtbarer und prekärer Subjektivitäten.
Fünfzig Jahre später fordert der Tanz weiterhin dominante soziale Schemata heraus, bietet alternative Rhythmen, Herkünfte, Gender und (Körper)Realitäten der Freiheit.
Aus der neuen ästhetischen Ausrichtung von Theater und Tanz in Westdeutschland seit den 1960er Jahren entstand die Idee der engagierten Kunst, die als Werkzeug galt, um die Gesellschaft mit dem Phantom der ungelösten Vergangenheit und mit dem Nihilismus des neoliberalen Fortschritts zu konfrontieren. Hans Kresniks Aussage von 1970, "Ballett kann kämpfen", betonte das Potential der choreografischen Praxis, kritisch in existierende soziale und politische Strukturen zu intervenieren, und den autoritären Staatsapparat mit einem undisziplinierten, anarchistischen, genussvollen und sinnlichen Körper zu konfrontieren. Hierbei wurde klar, dass das Tanztheater, das sich im engen Dialog mit anderen Künsten entwickelte (Bildende Kunst, Text, Film usw.), in der Lage war, unbequeme Fragen zu stellen und den Status Quo zu hinterfragen. Fünfzig Jahre später fordert der Tanz weiterhin dominante soziale Schemata heraus, bietet alternative Rhythmen, Herkünfte, Gender und (Körper)Realitäten der Freiheit. Die Utopie einer ungezähmten, emanzipierten Gesellschaft, die auf Solidarität und Gleichberechtigung beruht – wie sie von den 68ern imaginiert wurde – scheint jedoch ferner denn je.
11.8., 16:00 What remains? On Archives and Dance | Gäste: Claudia Henne, Leisa Shelton, Patrick Primavesi | Moderation: Andrej Mircev | Englisch
11.8., 18:30 Moving (the) Image: Encounters with Visual Arts | Gäste: Ola Maciejewska & Special Guest | Moderation: Andrej Mircev | Englisch
19.8., 17:00 Ein Countdown für den Modernen Tanz | Gäste: Hellmut Gottschild, Irene Sieben | Moderation: Heike Albrecht | In Kooperation mit der Tanzfabrik Berlin. | Deutsch
1.9., 15:00 1968 – Promise of Collectivity | Gäste: Brenda Dixon-Gottschild, Michiel Vandevelde | Moderation: Andrej Mircev | Englisch
Bibliothek im August
In einem Interview zur Beziehung zwischen Theater und Revolution sagte Julian Beck, Mitbegründer des Theaterkollektivs Living Theatre: "Als Studierende von Piscator lernten wir, dass man engagiert und parteiisch sein muss. Ich glaube, die Besetzung des Théâtre de l’Odéon während der 68er Revolution war die vollkommene Umsetzung seiner Vorstellung von politischem Theater." Indem er das revolutionäre Moment explizit mit der studentischen Bewegung und dem theatralischen ‘dispositif’ verbindet, bezieht sich Beck auf zwei grundlegende Punkte der Gesellschaft, die als Orte des Widerstands (der Vergangenheit und der Zukunft) wahrgenommen werden können: Bildung und Kultur. Als direktes Beispiel einer performativen Strategie, die die Sicherheit bürgerlicher Ästhetik hinter sich lässt und einige der grundlegenden anthropologischen Einschränkungen und Verbote heutiger Gesellschaften herausfordert, bot die Performance "Paradise Now" des Living Theatre das Modell einer Choreografie (der Revolution), die auch heute noch die soziale Ordnung stören könnte.
Ebenso wie Jubiläen und Geburtstage bieten Archive nicht nur die Gelegenheit, sich mit der Vergangenheit zu befassen, sondern sollten auch eine Möglichkeit schaffen, die Zukunft zu imaginieren und auf sie hinzudeuten. Mit der größtmöglichen Präzision formulierte wohl Jacques Derrida diesen Gedanken in seinem Essai "Mal d'archive": "Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen. Nicht morgen, sondern in zukünftigen Zeiten, sogleich oder vielleicht niemals. Das Archiv beruht auf einer gespenstischen Messianizität und bindet sie, wie Religion, wie Geschichte, wie Wissenschaft, an eine einzigartige Erfahrung des Versprechens."
Wie schon erwähnt setzt das Widerlegen der Behauptung, man könne Tanz nicht archivieren, einen diskursiven Wandel voraus, der die Zukünftigkeit choreografischer Spuren betont und ihr Potenzial, normative Körper zu verschieben vermag. Genauer gesagt: die Reste einer Performance können nie zu einem abgeschlossenen, historischen Ereignis gemacht werden, doch sie beharren und bestehen in einem kontinuierlichen Zustand des Werdens, der die Stabilität (und Objektivität) des Archivs herausfordert. Ohne die Erinnerung/das Archiv, das der tanzende Körper in sich trägt, kann es aber keine Präsenz geben. Endlich die Erinnerung (an den Tanz) aufzugeben, löst uns von einem Versprechen: das Versprechen, zusammen gegen die ‘gescheiterte Kinetik der Geschichte’ zu tanzen. Gegen die unpolitische Amnesie und die Anästhesie des Konsums. Und für die vergessene ‘Utopie des Zusammenseins’.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen.