Nora Chipaumire über ihre Entkolonialisierung
Interview: Esther Boldt
Interview: Esther Boldt
Esther Boldt: Sie leben in Brooklyn und in Simbabwe. Wie nehmen Sie beide Welten wahr?
Nora Chipaumire: Ich lebe in verschiedenen Zeiten und Regionen gleichzeitig, da ich Afrikanerin bin, aus Simbabwe komme, aber auch in Brooklyn, New York lebe. Ich bewege mich zwischen unterschiedlichen Gangarten. Wenn ich in Simbabwe bin, vermisse ich den Zugang zur digitalen Welt und ihre Geschwindigkeit, dieses Gefühl, dass alles nur einen Klick entfernt ist. Aber man gewinnt auch viel Zeit als irgendwie physisches Material, während ich, wenn ich in New York bin, nie Zeit habe, es ist, als wäre die Zeit Äther, sie verschwindet einfach. In Simbabwe verbringt man mehr Zeit mit Menschen, persönlich, nicht in den sozialen Medien. Der Rhythmus und die Geschwindigkeit der digitalen Welt fühlen sich einerseits effizient an, aber auch entmenschlichend, daher bin ich dankbar, dass ich in zwei unterschiedlichen Räumen zugleich leben kann. Das macht meine Arbeit zu dem dritten Raum, die sie ist.
EB: Wie oft reisen Sie zwischen New York und Simbabwe?
NC: So oft es geht. Eine 50%-50% Zeitaufteilung wäre für mich perfekt, aber wegen der ökonomischen Situation verbringe ich eher drei Monate im Jahr in Afrika und den Rest in der westlichen Welt.
EB: Können Sie in Simbabwe arbeiten?
NC: Simbabwe ist der Ort meiner Recherche, meines Nachdenkens, meines Lernens und Neu-Lernens. Es ist mir sehr wichtig, die Shona¹, die ich bin, vollständiger, besser und tiefer zu verstehen, die Sprache der Shona, die meine Muttersprache ist. Ich bin unter dem Apartheid-System aufgewachsen, und wir waren vollkommen außerstande, in die Fülle unseres Seins als Angehörige der Shona-Kultur zu reichen. Jetzt, als Erwachsene, möchte ich all das lernen, was mir nie wirklich beigebracht wurde. Das Hauptziel des kolonialen Projektes war es, aus allen einfältige Arbeitskräfte zu machen. Es ist für mich jetzt ein wirkliches Vergnügen in meiner kulturellen Sphäre zu sein. Das ist für mich die wirkliche Arbeit, daher: ja, ich arbeite in Simbabwe, es ist eine sehr tiefgehende und profunde Arbeit, die unbezahlbar ist. Aber niemand zahlt dafür, daher muss ich herausfinden wie ich überleben kann, wenn ich dort bin, denn wie jeder weiß ist Simbabwe bankrott. Dort als Tanzschaffende zu arbeiten ist eine der größten Herausforderungen.
EB: Sie haben an verschiedenen Orten Tanz studiert, verfügen aber auch über einen Abschluss in Jura. Was haben Jura und Tanz gemeinsam?
NC: Ja, in Simbabwe habe ich mich erst auf Jura konzentriert, und im Laufe der Zeit wurde mir die Gemeinsamkeit bewusst: meine Arbeit ist kontrovers, sie ist verteidigend. Ich denke, darin kommt vieles auf den Prüfstand, wird verhandelt und verändert.
EB: ... oder prozessiert ...
NC: Oder prozessiert. Darum geht es im Rechtssystem. Das Konzept der Gerechtigkeit, das Recht, das in einem Großteil der Welt umgesetzt wird, hat sehr viel Einfluss. Auch ich selbst finde es sehr spannend. Und ich denke, das habe ich letztlich aus meinem Rechtsverständnis mitgenommen. Ich war eine schlechte Jurastudentin, aber mir gefiel der performative Aspekt. Und ich glaube wirklich an diese Fragen der Gerechtigkeit und des Prozesses, es findet immer eine Debatte statt. Es gibt nie eine einseitige Aussage. Viele Fragen werden gestellt und viele Antworten gegeben. Das ist für mich die Verbindung zwischen meinem Jurastudium und meiner performativen Praxis.
EB: In "portrait of myself as my father“ beginnt die Verhandlung im Titel, weil das Wort Vater durchgestrichen ist, es ist anwesend und wird zugleich negiert.
NC: Ja, natürlich! Das ist auch ein Erbe von Jean-Michel Basquiat², manches ist noch präsenter, wenn man es durchstreicht, und es führt zu mehr Fragen: Warum wurde es durchgestrichen? Was möchte sie uns sagen? Schon da findet eine Verhandlung statt.
EB: Warum ist es denn durchgestrichen?
NC: Einerseits, um ganz klar Basquiat zu zitieren, aber auch um das Wort ‘Vater’ zu befragen. Mein Vater war vollkommen abwesend. Aber er war sehr präsent in seiner Nicht-Präsenz. Er war in meiner Fantasie realer aufgrund seiner Abwesenheit. Ich wollte die ganze Idee und Geschichte von Vaterland und Vaterschaft hinterfragen, und den Männern den Prozess machen. Die Männer haben uns so viel Elend und zugleich so viel Freude gebracht. Insbesondere auf der politischen Plattform: Die Gründung Afrikas ist ein Resultat dieses Treffens von 1884, bei dem Typen rumsaßen und entschieden, welchen Teil von Afrika sie nehmen würden.
EB: Sie meinen die Berliner Konferenz, als Afrika aufgeteilt wurde?
NC: Ja, die Berliner Konferenz, das Gerangel um Afrika. Mein eigener Vater, Webster Barnabas Chipaumire, war ein einziges Produkt dieser Konferenz. Wenn man es so sieht, als historisches Problem, hatte mein Vater sehr wenig Handwerkszeug, um mit der ungeheuren Weite des kolonialen Unterfangens zu verhandeln. Ungeachtet der Abwesenheit von meinem persönlichen Leben, war er also in seinem eigenen Leben abwesend.
EB: In Ihrer Performance werden zehn Schritte ausgeführt, um ein Schwarzer afrikanischer Mann zu werden. Ist das eine Art Antithese?
NC: Ja, absolut! Natürlich gibt es keine zehn Schritte. Das war ein verschmitzter Versuch, nicht nur das Problem darzustellen, sondern auch mögliche Lösungen aufzuzeigen.
EB: In den zehn Schritten stellen Sie eine Beziehung zwischen Stereotypen und Klischees her, aber Sie zitieren auch Vorbilder und Helden, wie Nelson Mandela und Patrice Lumumba. Damit verschränken Sie Utopisches und Dystopisches stark. Ist das eine künstlerische Strategie?
NC: Natürlich! Es ist für mich weder eine Utopie, noch eine komplette Dystopie. Es spielt sich in diesem dritten Raum ab, den ich gerne schaffen möchte, wie der Raum, in dem Edouard Glissant³ die Créolité⁴ entwickelte. Aber das ist eine andere Art von Raum als der, in dem Afrika oder eine Person wie ich sich befinden. Ich habe kein europäisches Blut, aber eine pseudo-europäische Bildung. Meine ganze Bildung war britisch. All unsere Prüfungen wurden nach dem Cambridge-System bewertet. Stellen Sie sich das mal vor! Wir sitzen in Simbabwe, schreiben Cambridge-Prüfungen, lesen über Keats und so, aber nie über König Lobengula oder den präkolonialen Staat von Munhumutapa. In dem Unterfangen, mich selbst zu dekolonisieren, spüre ich, dass wir alle im Netz der Utopie und Dystopie gefangen sind.
EB: Wie dekolonisieren Sie sich selbst?
NC: Der Kolonialismus nistete sich sehr erfolgreich in Teile unserer DNA ein. Aber das heißt nicht, dass es keine Teile gibt, die rein sind und nicht von fremden Ideen verschmutzt wurden. Es gibt immer noch unberührte Orte in meiner Shona-Welt. In diesem Wurmloch des Shona-Seins finde ich Reinheit. Ich nehme in der westlichen Welt eine Ideenarmut wahr. Außerhalb dessen, was mit digitaler Technologie zu tun hat, passiert nicht viel. In meinen Augen gibt es in vielen Teilen Afrikas, außerhalb der großen Städte, viel Kreativität, es passiert ganz viel, das nicht den Weg in die Stadträume findet. Das interessiert mich eigentlich. Trotzdem kann ich es nicht entpolitisieren. Ich kann mich meinem Wissen nicht entziehen. Ich bin ein eingeschlossener, einbezogener Teil des britischen Projekts.
EB: Wie beeinflusst diese Reinheit, die Sie entdecken, Ihre Arbeit?
NC: Ich wuchs unter Menschen auf, die sich der Bewegung und dem Körper hingaben. Ich habe keine formale Tanzausbildung absolviert, bevor ich in den Westen ging, und dort lernte ich den amerikanischen modernen Tanz und so kennen. Die Reinheit, die ich jetzt auf der Ebene der Körpersprache finde, ist eine Art und Weise, Raum, Zeit, Gewicht zu nutzen – all diese Aspekte, die wir Tanz nennen: Zeit, Raum und Kraft. Ich entdecke andere schöne Herangehensweisen, die rein Shona sind. Selbst die Entwicklung meiner Ästhetik, weg von dem westlichen Ansatz, hängt mit der Auseinandersetzung mit mir selbst zusammen.
EB: Sie haben eine einzigartige Ästhetik, Sie verbinden Tanz und Theater, postkolonialen Diskurs, Pop-Kultur, Club-Musik und sogar Akrobatik ...
NC: Früher war es so: Wenn man ein sogenannter ‘afrikanischer Künstler’ war und keine europäische Ästhetik verfolgte, sogenannten ‘weißen Tanz’, um so zu wirken, als hätte man das koloniale Projekt verstanden, kam man nicht weiter. Wenn man den Kanon nutzte, der als afrikanisch wahrgenommen wurde, sagten die Leute: Das ist afrikanischer Tanz, kein zeitgenössischer Tanz. Aber wir müssen nicht dem folgen, was Jérôme Bel gerade für richtig hält. In meiner Kultur werden Virtuosität und auch Philosophie vom Körper verkörpert. Mit Arbeiten wie "portrait of myself as my father“ und "#punk100%pop *n!gga“, an dem ich gerade arbeite, stelle ich mir vor, dass in Simbabwe und dem Rest von Afrika alles in Ordnung ist, die Kunstwirtschaft blüht und man wunderbar durch städtische und ländliche Regionen touren kann, und alle Menschen in der Lage sind, die Arbeit zu verstehen.
EB: Sie denken also an das Publikum in Simbabwe, wenn Sie etwas entwickeln?
NC: Absolut. Immer, denn ich komme auch von dort. Natürlich bin ich immer meine erste eigene Zuschauerin, doch Menschen wie ich sind die Intelligenzija. Ich möchte aber ein breiteres Publikum ansprechen, ich möchte, dass Menschen, die anders sind als ich, die Arbeiten verstehen. Dafür muss ich eine Ästhetik entwickeln, die funktioniert, die klug ist, in der es aber nicht darum geht, schwarze oder weiße Arbeit zu machen, sondern Arbeit, die gut ist.
EB: Sie sind mit "portrait of myself as my father“ viel durch Senegal, die USA und Europa getourt. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Publikum gemacht? In Hannover, wo ich es gesehen habe, wirkten vor allem die älteren weißen Männer im Publikum provoziert.
NC: Das ist ein Erfolg, denn diese Generation weiß genau, worum es in dem Stück geht. Egal ob sie europäische Schuld, weiße Schuld, männliche Schuld oder was auch immer verspüren, sie verstehen es. Für mich ist ihre Reaktion Teil des Diskurses. Europa ist mit seiner afrikanischen Vergangenheit so interessant, weil die Geschichte von Europa auch die Geschichte Afrikas ist. Wir sind in diesem Kampf gefangen, Sie und ich. Und manche Generationen empfinden diese Spannung mehr als die jüngere Generation, die die Geschichte nur aus Büchern kennen, sie aber nicht selbst erlebt hat.
EB: In dem Stück ist die Musik sehr präsent, laut, mächtig, manchmal übertönt sie sogar die Sprache. Wie wichtig ist Ihnen der Klang?
NC: Sehr wichtig. Ich fühle mich sehr sicher im Umgang mit Klang. Wenn ich zuhause bin oder anderswo auf dem Kontinent, fühlt es sich an, als würde mehrere Frequenzquellen auf einen einprasseln, und dann kann man sich entscheiden, sich entweder mit einer von ihnen zu synchronisieren, vollkommen verwirrt zu werden oder sich der schieren Lautstärke und dem allgegenwärtigen Chaos hinzugeben, vor allem in städtischen Gegenden. Ich persönlich liebe diese Dissonanz,ich liebe den Missklang. Die Sache ist die, dass wir viel verpassen in diesem Missklang. Ich finde diesen Raum des ‘black noise’ spannend, es hat sich nicht nur John Cage für Lärm interessiert, man hat ihn schon immer produziert und ich möchte diesen Raum beanspruchen. Wir produzieren sehr viel von dieser Art Lärm. Es zwingt das Publikum gewissermaßen auch, sich in die Arbeit hinein zu begeben, intensiver zuzuhören. Aber damit teste ich auch Grenzen aus. Wie weit kann man die Grenze des Zuhörens ausreizen, oder der Konzentration? Wie viele Sprachen kann man in diesen Schmelztiegel werfen? Swahili, Lingula, Shona, Englisch, afrikanisches Französisch ... alles auf einmal, soweit es geht. Wo liegt wirklich die Grenze?
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen.
¹ Shona: ein Volk aus Zimbabwe und Zentralmozambik. Die Shona besteht aus einigen Subgruppen, unter anderem den Karanga, Korekore, Manyika, Ndau, und Zezuru.
² Jean-Michel Basquiat (1960–1988) war ein afroamerikanischer Künstler. Heute wird er als einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts anerkannt.
³ Edouard Glissant (1928–2011) war ein martinikanischer Dichter, Schriftsteller und Theoretiker. Er ist vor allem bekannt für seine “Poetik der Beziehung ”, eine Untersuchung von relationaler Zugehörigkeit als dekoloniale poetische Intervention.
⁴ Créolité: Créolité ist eine literarische Bewegung, die zunächst von martinikanischen Schriftstellern in den 1980er Jahren entwickelt wurde. Créolité, oder "Creoleness”, ist ein Neologismus, das versucht, die kulturelle und linguistische Heterogenität auf den Antillen, insbesondere der französischen Antillen, zu beschreiben.