Ein Gespräch über 30 Jahre Tanz im August
Interview: Claudia Henne
Interview: Claudia Henne
Hertling leitete das Kulturstadt Europa Programm und machte 1988 aus Westberlin einen Experimentierraum, in dem es unter anderem eine Tanzwerkstatt gab. Ein Jahr später fand sie in der Form von Tanz im August statt, mit dem Hebbel-Theater als treibende Kraft. Aus diesem Experiment wurde ein weltbekanntes Festival. Zeit, vier erfahrene Frauen aus zwei Generationen an einem Tisch zu versammeln, die ihr Leben mit und im zeitgenössischen Tanz verbracht haben.
Claudia Henne: Woran denken Sie, wenn Sie an das Festival Tanz im August denken?
Adolphe Binder: Ich habe den Tanz über dieses Festival kennengelernt. Als ich in den 90ern nach Berlin zog, war es die Plattform, durch die ich etwas über diese Kunstform lernte – und das ist bis heute so. Ich komme aus dem Theater. Ich hatte ursprünglich gar nicht vor, im Tanzbereich zu arbeiten, daher war das Festival für mich eine der wichtigsten Begegnungen mit dieser Kunstform. Es war eine Chance, nicht um die Welt reisen zu müssen, und trotzdem Zugang zu haben, zu den verschiedenen Formen und der Vielfalt dieser Kunst und alle der damit verbundenen Kunstformen. Das ist trotz aller Veränderungen weiterhin der Fall.
Robyn Orlin: Für mich ist Tanz im August eine tolle Gelegenheit, unterschiedliche Arbeiten zu sehen. Ich liebe Berlin im August – wenn ich nicht gerade arbeite. Ich gehe sehr gerne zum Festival und gucke mir Vorstellungen aus der ganzen Welt an. Es ist erfrischend und öffnet ein Fenster auf die aktuelle Tanzwelt.
Virve Sutinen:Ich war oft als Besucherin bei dem Festival. Ich denke es hat auch damit zu tun, dass ich aus Helsinki komme. Zum einen war Berlin nicht weit weg, zum anderen war das Programm so vielfältig, dass es für mich Sinn ergab den Weg auf mich zu nehmen. Die diverse Mischung sprach mich an. Zudem fühlte ich mich heimisch, weil Berlin ähnlich wie Finnland ist. Es liegt zwischen dem Osten und dem Westen, daher gab es eine Vertrautheit des Ortes und des Programms.
CH: Nele, als Sie das Festival 1988 gründeten, wurden Tanzvorstellungen gezeigt und Workshops angeboten. War das damals etwas Neues?
Nele Hertling: Ja, das war etwas ganz Neues. Wenn ich darauf zurückblicke, wird mir bewusst, wie wenig damals außerhalb der klassischen Ballettschulen angeboten wurde. Im Rahmen der Kulturstadt Berlin 1988 konnten wir viel Geld ausgeben. Mein erster Gedanke war, Vorstellungen und Bildung miteinander zu verbinden, denn die Mauer stand noch – niemand dachte, dass die Mauer fallen würde – daher war es wichtig, Künstler*innen und Tänzer*innen aus Berlin in den internationalen Kontext miteinzubeziehen.
CH: Ist das auch heute noch wichtig?
VS: Immer weniger. Aber natürlich hat unser Festival seine Aufgabe und seine Existenz eine Berechtigung. In den letzten dreißig Jahren sind so viele Ausbildungsinitiativen und Ausbildungsinstitutionen entstanden, dass ich den Eindruck habe, dass das Festival andere Sachen besser kann. Wir konzentrieren uns darauf, wie wir den Dialog zwischen den Künstler*innen und dem Publikum erleichtern können, denn da geht es auch ums Lernen, das hat einen pädagogischen Wert.
RO: Es ist schwierig, beides anzubieten, aber wenn beide Strukturen voneinander lernen, ist das gut und bereichernd. Aber es ist ehrlich gesagt für die Künstler*innen auch sehr anstrengend, sich in solch einer kurzen Zeit auf beides zu konzentrieren. Das ist eine Herausforderung und bietet nicht die besten Voraussetzungen für eine Vorstellung oder einen Workshop. Der pädagogische Aspekt ist wichtig, er braucht mehr Raum und Zeit, damit die Künstler*innen und die Teilnehmenden sich entfalten können.
AB: In Wuppertal haben wir mit dem Tanztheater Wuppertal unser eigenes Angebot entwickelt, um die Bewohner*innen der Stadt mehr anzusprechen. Wir bieten immer mehr Workshops an, aber nicht mit einem pädagogischen Ansatz, sondern einem partizipativen, um etwas zu teilen. Wir unterrichten nichts oder niemanden, wir teilen nur Informationen und laden die Profis, die Laien, die semi-professionellen Tänzer*innen ein, in die Entstehung der Werke einzutauchen und mit Künstler*innen zu arbeiten, die eine*n bestimmte*n Künstler*in und ihre*seine Handschrift repräsentieren. Es ist sehr spannend, das zu beobachten, und zu sehen, was es mit den Leuten macht.
RO: Festivals schaffen immer einen Diskurs. Es geht darum, einen Raum für den Diskurs zu schaffen, anstatt diese Chance im Keim zu ersticken. Publikumsgespräche können etwas unbequem sein, ich finde sie aber spannend. Hoffentlich spricht das Stück für sich, aber mit dem Publikum zu interagieren, ist toll.
NH: Ich möchte zu dem Begriff Diskurs etwas sagen. Als wir 1988 herumreisten, um Kompanien einzuladen – schon bekannte Choreograf*innen – hatten sie noch nie etwas von den anderen eingeladenen Kompanien gesehen. Darum haben wir sie gebeten, fast drei Wochen, 18 Tage, zusammen in Berlin zu verbringen. Wir haben einen Raum gemietet und ihre Aufgabe war es, dort den ganzen Tag zusammen zu verbringen und mit ihrem eigenen Hintergrund, ihrer Entwicklung, ihrer Ästhetik oder ihren Ideen in einen Diskurs einzutauchen. Es ging also nicht nur um Workshops, sondern darum, professionelle Tänzer*innen in eine Debatte, einen Austausch, und teilweise in langfristige Zusammenarbeit einzubinden. Wenn man mit Tänzer*innen spricht, hört man sehr oft: Ich würde gerne bleiben und mehr sehen, wirklich in den Diskurs eintauchen. Ich glaube, es wäre gut, das wieder zu machen – in einer anderen Form.
Adolphe Binder, Intendantin und Künstlerische Leiterin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch von 2017 bis 2018, Künstlerische Leiterin der Göteborg Danskompani von 2011 bis 2016.
Nele Hertling, Leiterin des Hebbel-Theater von 1989 bis 2003 und Leiterin von Tanz im August von 1989-2003.
Robyn Orlin, südafrikanische Tänzerin und Choreografin, die häufig in Frankreich arbeitet und in Berlin und Johannesburg lebt.
Virve Sutinen, seit 2014 Künstlerische Leiterin von Tanz im August, von 2008 bis 2013 Leiterin des Dansens Hus in Stockholm.
VS: Es ist sehr schwierig, jemanden, der auf Tournee ist, dazu zu bekommen, zwei Wochen zu bleiben – das funktioniert so nicht mehr. Wir organisieren oft Tourneen für die Kompanien und arbeiten dabei mit mindestens fünf anderen Festivals zusammen. Wir versuchen auch ökologisch zu denken – es ist doch absurd, jemand für einen Auftritt aus Australien einzufliegen. Damit entwickelt sich auch eine nachhaltige Wirtschaft für die Künstler*innen. Der überwiegende Diskurs des Festivals ist der gleiche: neue Welten eröffnen, neue Künstler*innen zeigen und auf dem Stand zeitgenössischer Thematiken zu bleiben. In den letzten 30 Jahren ist der Tanzbereich enorm gewachsen. Ich habe manchmal Angst, dass ich die Künstler*innen erschöpfe mit meiner Begeisterung für Gespräche und Debatten, ich frage mich wie viel ich von ihnen verlangen kann. Der größte pädagogische Mehrwert liegt im Programm, im kuratorischen Prozess und seiner Praxis. Es fängt mit der Frage an, was in dieser Zeit und an diesem Ort, im Berliner Kontext, einen Sinn ergibt.
AB: Umweltfragen sind mit der Tourneeplanung verbunden. Ich versuche weniger zu reisen und mehr über Skype zu besprechen. Ich bin jetzt hier, dafür musste ich reisen. Es wirft die Frage nach der Größe der Formate auf und wie umweltfreundlich das Ganze wirklich ist. Das ist eine komplexe Frage. Aber schlussendlich geht es ja darum, die Vorstellungen live zu sehen.
CH: Live, darum geht es noch immer. Die Digitalisierung mancher Stücke, über YouTube, Vimeo usw. – ist das wirklich eine Lösung?
VS: Das ist eine der Herausforderungen für Kurator*innen und Künstler*innen. Anstatt nach London zu reisen, kann man sehr viel online sehen. Dort ist es für alle zugänglich. Es wirft die Frage auf: Was muss man einladen? Ich denke, es wird die Kunstform verändern. Es zwingt uns, uns zu fragen: Was ist es, das andere mediale Formate nicht anbieten können? Es erhöht das Bewusstsein für den zentralen Aspekt unseres Geschäfts: die vergängliche Kunst.
AB: Für mich kann der Film natürlich die live Erfahrung nicht ersetzen. Aber was hat zum Beispiel der Film von Wim Wenders mit dem Tanztheater gemacht? Es hat viel mehr Publikum erreicht und Menschen, die noch nie bei einer Tanzvorstellung waren. Es hat sehr viel Interesse geschürt. Wenn Sie die Zuschauer*innen nach den Gründen ihrer Anwesenheit fragen, ist es für viele der Film. Sie wollen das live erleben, sie wollen die Kompanie sehen. Ich glaube, das Teilen, der Begegnungsort, das Zusammenkommen in einem Raum mit anderen Menschen und eine Erfahrung teilen, wird wertvoller werden.
RO: In Südafrika sagt man "Keep a theatre going". Das Licht darf nie ausgehen, denn dann wird es zu einem Parkhaus umgebaut. Es ist überlebenswichtig, dass es nie geschlossen wird. Sonst ist es vorbei! Mir ist das Bedürfnis im Blut, die live Performance am Leben zu halten. Ich setze viele Medien ein auf der Bühne, daher spreche ich ein anderes Publikum an.
NH: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Die digitalisierte Kunstdarstellung ist für mich eher Information. Aber in einem Raum zusammenkommen, eine Performance sehen, das ist etwas ganz anderes.
CH: Virve, hat das Finanzielle eine übergeordnete Position eingenommen, sodass die Besonderheiten der Orte, der Städte verloren gehen, weil man mit dem Festival Einnahmen machen muss? Selbst wenn es subventioniert ist?
VS: Ich glaube nicht. Die allgemeine Professionalität hat es vergrößert. Wir koproduzieren jetzt internationale und Berliner Künstler*innen. Ein großer Teil des Budgets fließt in die Publikumsformate, denn wir verlangen nicht, dass sie umsonst angeboten werden. Oder in die Entwicklung dieser anderen Formate. Die Retrospektiven erfordern einen zweijährigen Prozess, in dem man mit den Künstler*innen arbeitet, forscht, eine Publikation herausgibt und hoffentlich ein besseres Verständnis der choreografischen Praxis erlangt. Das ist ein ganz anderer Vorgang. Wir sammeln vor allem viele Informationen in dem globalen Netzwerk, in dem wir uns bewegen. Es ist wesentlich langatmiger und aufwendiger, Inhalte und ihre Kontextualisierung zu erarbeiten als nur Vorstellungen zu zeigen. Zu dem kommt die übergeordnete Aufgabe, zeitgenössischen Tanz mit der Gesellschaft, den dringenden gesellschaftlichen Fragen, der Geschichte, der Zukunft usw. zu verbinden. Ein Experiment ist für mich, zu schauen, wie viel Publikum es für zeitgenössischen Tanz gibt. Ich habe mich sehr gefreut, dass jedes Jahr mehr Zuschauer*innen kommen. Ich möchte denjenigen, die glauben, zeitgenössischer Tanz sei ein Randphänomen, beweisen, dass das nicht stimmt.
CH: Ist das nicht ein Problem? Dass das Festival gewissermaßen überfrachtet wird?
VS: Man sieht, dass wir unterschiedliches Publikum erreichen wollen. Wir verfügen über mehr Ressourcen, damit ist die Verpflichtung verbunden, zeitgenössischen Tanz bekannter zu machen und neue Zielgruppen zu erschließen. Das geht nicht, ohne dass man das Programm überarbeitet, indem man neue ästhetische Herangehensweisen, Stile und Ideen integriert. Die Vielfalt und die Größe des Festivals sind dem Bestreben, zeitgenössischen Tanz für so viele Leute wie möglich zugänglich zu machen geschuldet. Wir arbeiten mit allen, seien sie aufstrebende, unabhängige Künstler*innen oder etablierte Namen, mit großen, mittleren oder kleinen Kompanien, wir versuchen die ganze Welt abzubilden. Vielleicht sind unsere Ambitionen gewachsen, daher ist das Festival auch größer geworden. Vielleicht ist die Überforderung meiner Arbeitsweise ein karnevalistischer Moment für die Stadt.
CH: Was ist die politische Wirkung des Festivals? Wird diese Frage von Festivalleiter*innen diskutiert?
VS: Wir sehen es als Teil unserer Aufgabe, das stellen wir nicht mehr in Frage. Insbesondere in Europa. Da gibt es eine Festivaltradition, einen kontinuierlichen Dialog darüber, was Festivals sind und welche Rolle sie in städtischen Strukturen einnehmen, inwiefern sie Teil der Konkurrenz zwischen den Städten sind, welche Rolle Kultur in der Hinsicht spielt, inwiefern sie eventuell instrumentalisiert wird, und wie wir das vielleicht auch nutzen können.
CH: Nele, ist es Bestandteil der kulturellen Diplomatie, Künstler*innen und Choreograf*innen aus der ganzen Welt an einen Ort zu bringen, zum Beispiel nach Berlin?
NH: Wir sind mit sehr viel Euro-Skeptizismus und anti-europäischen Einstelllungen konfrontiert, sogar innerhalb der europäischen Grenzen. Ich setzte mich jeden Tag für die Rolle von Kunst und Kultur ein, um diese neuen, sehr gefährlichen Gefühle und Fakten zu bekämpfen. Zu meinen Anfängen war es spannend, weil wir nicht wussten, was in Europa los ist, weil es nicht so viele Möglichkeiten gab. Es gab nicht so viele Festivals für zeitgenössischen Tanz, man konnte nicht so leicht reisen, man konnte nicht in den Osten. Es gab ein anderes Bedürfnis, das abzubilden, was in anderen Ländern passiert. Heute ist es für mich ein viel politischeres Bedürfnis, den Menschen bewusst zu machen, dass es zwar unterschiedliche Geschmäcker, Traditionen, Vergangenheiten gibt, man diese aber mithilfe der Kunst überwinden kann. Es besteht eine neue Dringlichkeit, aus Festivals internationale Begegnungsorte zu machen für den Austausch von Informationen, zur Stärkung von Toleranz und so weiter. Nur Kunst kann das heutzutage erreichen.
CH: Adolphe, Sie zeigen dieses Jahr kein Stück von Pina Bausch, sondern von einem norwegischen Choreografen. Wenden Sie sich einer neuen Ästhetik zu, einer neuen Tanzwelt?
AB: Es ist auf jeden Fall ein Schritt hin zu einer neuen Handschrift, aber nicht unbedingt zu einem neuen Genre. Alan Lucien Øyen repräsentiert das Tanztheater auf ganz eigene Weise. Und die Verschmelzung verschiedener Ausdrucksformen wie Text und Film durch Bewegung, konzeptuelle Ansätze und Recherche – das passt eigentlich sehr gut zu dem Gedanken und der DNA des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Daher freu ich mich auch sehr über diese Partnerschaft – wir wollten etwas zeigen, das für den Schritt in Richtung Zukunft steht, nachdem die Kompanie lange keine abendfüllenden neuen Arbeiten entwickelt hat. Es ist kein Genrewechsel, nur ein anderer Blickwinkel, aber mit einem ähnlichen Interesse. Es war tatsächlich nicht leicht, wenn ich das so sagen darf, Künstler*innen zu finden, die die Kompetenz haben, sich darauf wirklich einzulassen.
CH: Robyn, Sie sind diesen Sommer auch beim Festival vertreten. Worum geht es in Ihrem Stück "Oh Louis...“?
RO: Diese Arbeit ist mir sehr wichtig. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich in Europa lebe und es ist das erste Stück, das ich ohne Südafrikaner*innen entwickle. Ich wollte mich mit dem französischen König Ludwig XIV. befassen, um die Tanzgeschichte in Europa besser zu verstehen. Das war der Ausgangspunkt meiner Reise mit Benjamin Pech und Loris Barrucand, aber der ‘code noire’ (ein vom König erstelltes Regelwerk, das festlegt wie Sklav*innen behandelt werden sollten), ist in meiner Recherche und meinen Gedanken immer wieder aufgetaucht. Daher habe ich – hoffentlich – einen Weg gefunden, aus diesem Stück einen Ort der Begegnung zwischen Europa und Afrika zu machen.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen.