Ausgehend von ihrer vielfältigen künstlerischen Erfahrung refklektiert Constanza Macras ihre Vergangenheit und Zukunft
Interview: Virve Sutinen
Interview: Virve Sutinen
Virve Sutinen: Du hast zahlreiche künstlerische Arbeiten entwickelt: Könntest Du sagen auf welches Stück Du am meisten stolz bist? Oder hast Du einen Favoriten? Aus welchem Stück hast Du am meisten gelernt?
Constanza Macras: Es ist schwierig, ein Lieblingsstück zu nennen, denn jede neue Stückentwicklung finde ich toll: die Performer*innen, die Arbeit, die Reise, auf die ich mich dadurch begebe ... Ich blicke zurück auf Arbeiten aus unterschiedlichen Epochen, zum Beispiel vom ‘alten’ Dorkypark-Team – als ich von 2002 bis 2008 mit denselben Leuten zusammenarbeitete, auf "Back to the Present" (2003) etwa. Dann habe ich 2008 "Hell on Earth" entwickelt. Und arbeite nun seit zehn Jahren mit der ‘neuen’ Dorkypark Kompanie. In der Zeit habe ich unter anderem "The Past" und "The Pose" entwickelt. Von den Stücken, die ich im Ausland entwickelt habe, gehören "The Ghosts" und "Hillbrowfication" (in Zusammenarbeit mit Lisi Estaras) zu meinen Favoriten. Ich habe durch "Open for Everything" und "Hillbrowfication" viel gelernt, da kann ich mich nicht für einen Favoriten entscheiden. Das ist klar.
VS: Du arbeitest oft mit ‘Anderen’: Wie gehst Du mit der Frage der kulturellen Aneignung um? Hast Du schon mal vor einer Zusammenarbeit zurückgeschreckt?
CM: Wenn ich im Laufe des kollaborativen Prozess selbst einen "Anderen" konstruiere, dann sollte ich mich zurückziehen, aber ich achte darauf, das nicht zu tun. Jedes Mal, wenn ich mit Menschen zusammenarbeite, die nicht in der westlichen Gesellschaft aufgewachsen sind, fühle ich mich als Teil der Gruppe und bin dafür sehr dankbar. Wir sprechen im Prozess viel darüber. Diese Debatten sind wichtig für die Auseinandersetzung mit kulturellen Konstrukten. Ich hinterfrage das Privileg meines Weiß-Seins (durch meine Zusammenarbeit mit der Künstlerin Ayana V. Jackson, die mir einen metaphorischen Schlag auf den Kopf verpasste). Kulturelle Aneignung ist ein komplexes Thema: politische Identitätsfragen können die Kunst lebensbedrohlich verletzen, wenn man sich im politisch Korrekten verfängt.
VS: Du warst mit "The Ghosts" bei Tanz im August, da entdeckten wir junge Zirkus-Artist*innen. So war es auch bei "Open for Everything": die Roma-Künstler*innen sind mit Dorkypark um die Welt getourt. Bleibst Du nach der Entwicklungsphase und der Tournee mit den Künstler*innen in Kontakt?
CM: Ich bleibe immer mit ihnen in Kontakt. Ich habe mehrere Projekte mit einigen Performer*innen aus "Open for Everything" gemacht. Das beste Beispiel ist Emil Bordas, der nach "Open for Everything" zu Dorkypark kam und seitdem in allen Produktionen aufgetreten ist. Ich möchte nächstes Jahr auch wieder mit den drei jungen Akrobatinnen von "The Ghosts" zusammenarbeiten. Ich arbeite mehr als einmal mit Menschen. Ich finde es wichtig, einander wieder zu begegnen, das Vertrauen und den Arbeitsprozess zu vertiefen.
VS: Im Laufe der Jahre hast Du es geschafft eine Kompanie, ein Ensemble von Tänzer*innen zusammenzuhalten. Das ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Was ist Dein Geheimnis?
CM: Es gibt unterschiedliche Faktoren. Als ich genug Aufträge hatte und regelmäßig mit dem HAU Hebbel am Ufer und der Schaubühne Berlin (zusätzlich zu den stattfindenden Tourneen) arbeitete, hatten manche Tänzer*innen von Dorkypark genügend Arbeit, um davon leben zu können. Selbst als Freelancer*in mussten sie nicht immer an unterschiedlichen Projekten arbeiten.
Doch seit drei Jahren habe ich keine Basis mehr an einem Theater, daher gibt es für mich weniger Kontinuität in Berliln, die Zeiten sind schwerer geworden.
Ich denke, dass Liebe, Wertschätzung, Vertrauen, Bewunderung für einander, für die eigene Arbeit, für das technische Team – all das hat eine ausschlaggebende Rolle für den Zusammenhalt gespielt. Ich arbeite schon lange mit meinen jetzigen Kollegen: Sergio de Carvalho Pessanha macht seit 13 Jahren das Licht für mich, Stephan Wöhrmann macht seit 15 Jahren den Ton und die Dramaturgin Carmen Mehnert arbeitet seit 2003 mit mir. Natürlich muss ich nach so vielen Jahren eine Form von Stabilität bieten können, vor allem für diejenigen, die nur mit mir arbeiten (oder gearbeitet haben). Ich engagiere zurzeit nur drei Tänzer*innen, weil ich es mir nicht leisten kann, mehr zu bezahlen, aber ich versuche mindestens der Hälfte der Gruppe weitere Aufträge zu vermitteln.
VS: Es findet aktuell in Berlin ein politischer Prozess über ein mögliches Tanzhaus statt. Du bist dafür bekannt, dass Du auch Stücke für größere Bühnen entwickeln kannst, für die es mehr Ressourcen bedarf. Würdest Du dich darüber freuen, wenn es solch eine Bühne nur für den Tanz geben würde? Wenn ja, was versprichst Du dir davon? Was bräuchtest Du, um in Berlin besser arbeiten zu können?
CM: Es würde mich freuen, wenn es neben dem HAU Hebbel am Ufer, Sophiensæle, Dock 11 Berlin und uns im Verlin, die je nach Möglichkeit schon viel für die Tanzszene tun, in der Stadt mehr Raum für Tanz gäbe. Was die Kontinuität eines Ensembles und eines Theaters angeht: Es gibt viele kleinere deutsche Städte, die ein Theater mit Tanz- und Schauspielensemble haben. In Berlin gibt es fünf Schauspielensembles in verschiedenen Theaterhäusern und kein einziges Tanzensemble. Wäre es nicht perfekt (und aktuell sehr schwierig), wenn wenigstens drei der Ensembles auch über ein Tanzensemble verfügen würden? Dort könnten Vorstellungen im Repertoire-Betrieb gezeigt werden und die Künstler*innen könnten von den fantastischen Bedingungen eines Stadt- oder Staattheaters und langfristigen Engagement profitieren.
Es muss eine Wachstumsperspektive geben, das ist für manche Künstler*innen jedoch sehr schwierig, solange immer dieselben Personen in den Tanzjurys sitzen. Das ist für viele – mich inkludiert – ein großes Problem. Zudem gibt es fast keinen Raum für Tanz in größeren Institutionen. Ein Haus für den Tanz sollte flexibel sein und verschiedene Räume für unterschiedliche Formen choreografischer Arbeiten bieten, um den Bedürfnissen der freien Gruppen und der großen Ensembles gerecht zu werden. Man bräuchte ein Produktionshaus mit Proberäumen, einer Kostümabteilung, einer Technikabteilung und einem Produktionsbüro.
Hoffentlich wird Tanz sichtbarer, damit Tänzer*innen und Choreograf*innen von sichereren Arbeitsbedingungen profitieren können – je schneller, desto besser.
VS: Manche Zuschauer*innen sehen Zeitgenössischen Tanz als Herausforderung. Dein Markenzeichen ist es jedoch, sehr offene und zugängliche Arbeiten zu entwickeln. Denkst Du während des Probenprozesses an das Publikum?
CM: Nein. Aber ich arbeite immer mit konkreten Ideen, ich möchte auf einer Ebene, sei es bewusst oder unbewusst, kommunizieren können. Dies im Tanz zu schaffen, ohne in Pantomime zu verfallen, ist sehr schwierig. Ich arbeite mit vielschichtigen Bedeutungen und Ideen, und unterschiedliche Zuschauer*innen nehmen unterschiedliche Aspekte wahr. Daher wirken meine Stücke vielleicht für viele Leute zugänglich.
Unser Publikum ist sehr vielfältig und ich kann es, obwohl wir an so vielen Orten in der Welt aufgetreten sind, nach wie vor nicht definieren. Manchmal treten wir in unserer kleinen Spielstätte namens Verlin auf, da ist der Großteil des Publikums über 50, und am nächsten Tag sind fast alle unter 30. Das ist uns auch in anderen Theatern passiert.
VS: Wie kamst Du zu der Idee "Chatsworth" zu entwickeln?
CM: Ich spreche gerne über Migration und darüber, wie normal sie seit Jahrhunderten ist. Heute wird ihr etwas Merkwürdiges angehaftet. Die indische Community von Durban ist die Größte außerhalb Indiens. Die ersten Einwanderer kamen 1860 unter der britischen Kolonialherrschaft als Vertragsarbeiter*innen. Nach 100 Jahren in Südafrika wurden sie während dem Apartheid in zwei Townships umgesiedelt: Chatsworth und Fenix.
In "Chatsworth" geht es um die verschiedenen Arten und Weisen, auf die die indische Diaspora einen Bezug zu den vielzähligen Schnittpunkten von Multikulturalismus, räumlicher Segregation und freiwilligem Rückzug gefunden hat.
Die südafrikanischen Inder*innen haben die Normen, Werte und Traditionen ihres kulturellen Erbes übernommen, sie bleiben daher fast reaktionär, haben aber zwangsläufig eine südafrikanische indische Identität angenommen. Indischer Tanz und indische Filme sind sehr beliebt, Tanzen spielt eine sehr große Rolle in der Gesellschaft. Es ist eigentlich einer der größten Bezugspunkte zur Identität. Wenn man Identität so definiert, dann bilden die Widerstandsfähigkeit und die Kreativität der indischen Community in Südafrika eine gute Reflektionsfläche, um über Mobilität und Auswanderung in Europa heute nachzudenken, insbesondere angesichts der wachsenden Unterstützung für rechtsextremen Parteien auf dem ganzen Kontinent.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen.