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Frances Chiaverini und Robyn Doty diskutieren über #MeToo im Tanz 

Interview: Elena Philipp
Illustrationen: Julia Praschma

"Whistle While You Work" wurde am Anfang der #MeToo-Debatte gegründet. Die ehemalige Forsythe-Tänzerin Frances Chiaverini und die Aktivistin und Lehrerin Robyn Doty gehen strukturelle Probleme in der Tanzszene an: Hierarchien, Sexismus, Fehlverhalten und Machtmissbrauch, eine Ausbildung, die Unterwerfung fördert, und schlechte Arbeitsbedingungen. Im Gespräch über die Missbrauchsfälle, die 2017 bekannt wurden, merkten sie, dass viele Tänzer*innen den Eindruck hatten, darüber nicht sprechen zu können oder befürchteten, damit ihre Karriere zu gefährden. Daher wollten Chiaverini und Doty, dass die Stimmen von Tänzer*innen an erster Stelle stehen, wenn über Belästigung und Diskriminierung im Tanz und in der Kunstwelt gesprochen wird.

Elena Philipp: Was war der Ausgangspunkt von "Whistle While You Work”? Was ist bis jetzt geschehen?

Robyn Doty: "Whistle While You Work" begann, als wir Tänzer*innen über ihre Arbeitsbedingungen und den Umgang am Arbeitsplatz sprechen hörten. Wir fanden es wichtig, dass diese privaten Gespräche öffentlich gemacht werden. Öffentliche Diskussionen über Belästigung, Diskriminierung und Ausbeutung sind der einzige Weg, Veränderungen zu ermöglichen.

Frances Chiaverini: Wir haben letztes Jahr angefangen, uns darüber auszutauschen. Im Oktober beschlossen wir, dass die Debatte über #MeToo auch in der Tanzszene stattfinden muss. Ich habe von anderen Tänzer*innen andauernd Geschichten gehört wie: ich fühle mich gefangen, ich weiß nicht, was ich tun soll... Wir haben erst beschlossen, dass es auf unserer Website whistlewhileyouwork.art eine Möglichkeit geben soll, seine Geschichten zu posten und Berichte anderer zu lesen. Es ist wichtig, bekannt zu machen, dass es diese Situationen gibt und sie keine isolierten Vorfälle sind. Robyn, die schon lange politisch aktiv war, wollte Workshops anbieten. Wir wollten mit Tänzer*innen über das, was passierte, offen und ehrlich sprechen. 

RD: Als erstes geht es darum, dass die Teilnehmenden für sich Missbrauch identifizieren und definieren. Wie sieht er aus? Wie fühlt er sich an? Sehen die Menschen die Situation, in der sie sich befinden, als Missbrauch oder als "Norm"? Wir möchten herausfinden, ob Tänzer*innen und Künstler*innen den Eindruck haben, dass sie über sich selbst und ihren eigenen Körper entscheiden können. Können sie unangenehme Vorschläge ohne Konsequenzen ablehnen, fühlen sie sich an ihrem Arbeitsplatz sicher, arbeiten sie in einem Umfeld, in dem sie sich nicht gedemütigt, angegriffen oder ausgebeutet fühlen?

FC: Wir möchten Tänzer*innen darin bestärken, dass sie ein Recht haben auf angemessene Arbeitsbedingungen und auf gesunde Beziehungen mit Kolleg*innen, Choreograf*innen usw. Ihre Arbeit sollte die Tänzer*innen in ihrer Selbstbestimmung stärken. Viele akzeptieren schlechte Arbeitsbedingungen und denken, dass müssen sie – aber das ist nicht der Fall! Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern und Tänzer*innen in ihrer Handlungsfähigkeit stärken! 

RD: Durch Diskussionen in unseren offenen Foren werden den Menschen die realen Arbeitsbedingungen bewusst. Tänzer*innen und Künstler*innen kommen zusammen, um darüber zu sprechen – das bedeutet, dass alle eine bessere Vorstellung davon bekommen, was ‘normal’ ist und was für sie zum Standard werden soll.

FC: Wir haben im Januar 2018 mit den offenen Foren begonnen. Ziel war es, ein offenes Forum pro Monat zu veranstalten. Bis jetzt gab es zwei in L.A. und jeweils eins in New York, in Frankfurt, Essen und Berlin. Bei jedem Forum kommt eine andere demografische Tänzer*innengruppe. In L.A. waren es Tänzer*innen aus der kommerziellen Tanzszene. In Essen, bei der Tanzplattform Deutschland, waren viele Institutionen vertreten. Dort haben wir auch das Team von Tanz im August kennengelernt.

EP: Was werden Sie im Rahmen von Tanz im August anbieten?

FC: Wir werden ein Forum anbieten und das Konzept eines Manifests diskutieren – es wird ein kollaboratives Format, das sich an den Bedürfnissen der Tänzer*innen orientiert und ihre Handlungsfähigkeit stärken soll. Wir stellen außerdem eine Auswahl an Büchern für die Bibliothek im August zusammen, die einen sektionsübergreifenden Ansatz ermöglichen, über Gender, Performance und den Körper nachzudenken. Wir werden auch Berichte sammeln und weitere Tänzer*innen ermutigen, ihre Erfahrung zu teilen.

EP: Vielleicht könnten Sie uns etwas mehr über ihren aktivistischen Hintergrund erzählen, Robyn? Wie sehen Sie beide als US-Amerikanerinnen die Debatte in den Vereinigten Staaten?

RD: Ich hatte das Glück, Mitglied von feministischen Gruppen zu sein. Ich habe an der Universität Gender Studies studiert und gelernt, dass die Welt ein konstruierter Raum ist. Es ist wichtig, Machtstrukturen, von denen nicht alle profitieren, zu dekonstruieren und aufzubrechen, zu verstehen, in welchem Verhältnis Hierarchien, Macht und Tanz stehen. Wir möchten wissen, wie Tanz-Institutionen und -Universitäten ihre Räume für alle inklusiver gestalten können. Wir sehen, dass die Leute je nach Herkunft, Geschlecht, Gender, sexueller Orientierung, Herkunftsland usw., unterschiedliche Erfahrungen machen – alle sollten Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung erfahren.

Es gibt zahlreiche Probleme. Erstens die Ballettkultur und die Tanzausbildung, die in sich ein Prozess der Unterwerfung sind.

FC: Die #MeToo-Bewegung hat einen sensationsgierigen Mediensturm ausgelöst: die Geschichten über Harvey Weinstein und Bill Cosby, sogar zurück bis zu Anita Hill, die in den 90ern ihren Vorgesetzten, Clarence Thomas, den Kandidaten für das Höchste US-amerikanische Gericht, die Supreme Court, sexueller Belästigung bezichtigte. Die Aufregung in den Medien lässt es so aussehen, als fände in den USA eine Entwicklung in Richtung mehr Gleichberechtigung statt. Vielleicht trifft das auf bestimmte Bereiche zu, zum Beispiel auf Hollywood. Aber ich würde sagen, dass sich im Tanzbereich wenig verändert – zumindest ist das mein Eindruck der letzten fünf Jahren, die ich in Frankfurt verbracht habe. Ich reise aber oft in die USA und versuche mit so vielen Tänzer*innen wie möglich in Kontakt zu kommen.

EP: Was ist der Hauptgrund dafür, dass sich der Tanzbereich gegen Veränderungen wehrt?

FC: Es gibt zahlreiche Probleme. Erstens die Ballettkultur und die Tanzausbildung, die in sich ein Prozess der Unterwerfung sind. Es ist sehr schwierig sich davon zu befreien, wenn davon ausgegangen wird, dass man einem gewissen Maß an Missbrauch zustimmt, indem man am Ballettunterricht teilnimmt. Viele würden behaupten, dass so große Kunst entsteht, dass es dazugehört. Ein anderes Problem ist die wirtschaftliche Situation: Es ist so schwierig als Tänzer*in oder Künstler*in über die Runden zu kommen, dass sie oft schlimme Jobs annehmen und behalten, weil sie unbedingt tanzen wollen. Es gibt einige Vorfälle, die in den USA bekannt wurden, unter anderem bekam das New York City Ballet (NYCB) etwas Medienaufmerksamkeit, aber sie löste keine Debatte aus. Die Menschen in den Kompanien sind noch Teil dieser Kultur, sie wollen den Machtmissbrauch nicht sehen. Peter Martins ist als Künstlerischer Leiter des NYCB zurückgetreten, er wurde aber nicht dazu gezwungen. Dann gab es etwas zu Marina Abramovic und ihren Tänzer*innen... Aber ich sehe da keine Veränderung, die Geschichten werden nur veröffentlicht. Es wird noch sehr viel geleugnet und es gibt viel Verzweiflung.

EP: Was muss sich ändern? Und wie wollen Sie dazu beitragen?

FC: Ursprünglich war es unsere Rolle, das Gespräch anzufangen, herauszufinden, was sich ändern muss – außer dem Offensichtlichen, nämlich dass die Tänzer*innen allgemein in den Institutionen besser vertreten werden müssen. Wir entwickeln Workshops, sowohl Tanzworkshops wie auch praktischere Workshops für ein breiteres Publikum, um Selbstbestimmung zu stärken, Grenzen zu verstehen...

RD: … kontinuierliches Einverständnis (ongoing consent ) zu verstehen...

FC: ...die eigene Intuition zu pflegen, obwohl sie oft vernichtet oder verdreht wird um sie den Bedürfnissen der Choreograf*innen oder Regisseur*innen anzupassen. Es geht darum, die Art und Weise, wie Vorfälle gedacht und erzählt werden, zu verändern. Das ist die größte Hürde. Viele Tänzer*innen denken, dass ihnen niemand glauben wird, oder dass sie eine Mitschuld tragen. Berichte werden oft angezweifelt und in zahlreichen Kompanien gibt es wenig Solidarität. Die Institutionen schaffen Konkurrenz anstelle einer Situation, in der alle für einander einstehen, wenn etwas passiert, und in der man Vorfälle ansprechen kann.

Wir möchten mit den Institutionen und Universitäten sprechen, um die Arbeitsbedingungen von Tänzer*innen und Künstler*innen zu verbessern.

RD: Verantwortung ist ein großes Thema. Wenn es zu Anschuldigungen kommt, dürfen diese nicht ignoriert werden, es muss wirklich ermittelt werden. Wenn sich Anschuldigungen bewahrheiten, müssen diese Leute gefeuert und Nachfolger*innen eingestellt werden. Jeder Rücktritt ist eine Chance, eine andere Person einzustellen, die ihre Macht in der Position nicht missbraucht. Es gibt so viele talentierte, fähige Menschen, die ihre Macht nicht missbrauchen, die Institutionen leiten und Kunst schaffen können. Das muss innerhalb der Institutionen, der Universitäten oder der Kompanien geschehen – sie müssen verantwortlich handeln und Verantwortung übernehmen. Außerdem wäre eine anonyme Hotline oder ein*e Psychologe*in, an die sich Tänzer*innen in Belästigungs- und Diskriminierungssituationen wenden können, sehr hilfreich. Wir möchten mit den Institutionen und Universitäten sprechen, um die Arbeitsbedingungen von Tänzer*innen und Künstler*innen zu verbessern.

FC: Es ist eine Schande, dass die Tänzer*innen die Verantwortung dafür übernehmen müssen, Missstände anzusprechen und Machtstrukturen aufzubrechen – genau die Leute, die Opfer von Missbrauch oder Diskriminierung sind. Aber es ist diese Gruppe, die sich weiterentwickelt und diese Posten in der Zukunft besetzen wird. Daher ist der Prozess langatmig, aber vielleicht ist er dadurch umso wirksamer. Wir reden vor allem mit jungen Tänzer*innen, und ich bin begeistert von dieser jüngeren Generation. Ihr Feminismus ist wirklich aufregend, sie sind davon begeistert, und stellen diesen alten, weißen, europäischen Männern in Machtpositionen viele Fragen. Ich weiß nicht, ob ich das mit 19 Jahren getan hätte.  

Wie können wir alle miteinbeziehen? Wir wollten nicht, dass nur die Lautesten gehört werden.

RD: Es ist auf jeden Fall wichtig, dass nicht nur weiße Männer an der Macht sind. Wir brauchen Frauen, People of Colour, Einwanderer*innen, Trans-Menschen, queere Menschen, alle – das würde die ganze Dynamik innerhalb der Strukturen positiv verändern. Inklusion ist Innovation. Es passiert vielleicht nicht in unserer Generation, aber jede Generation bringt es voran – Fran und ich sind fest entschlossen, dazu beizutragen.

EP: Sie haben erwähnt, dass Tänzer*innen es nicht gewohnt sind, zu sprechen – wie gehen Sie in Ihren Workshops damit um?

FC: Die Tanz-Workshops beruhen auf Improvisation. Damit spricht man schon die Intuition an, die Kommunikationsfähigkeit, das Zuhören und Entgegnen, Fragen und Antworten auf einer körperlichen Weise, kurzfristiges Entscheidungen-treffen und Timing. Beobachtung spielt in unseren Workshops eine wichtige Rolle: Außen stehen und Menschen dabei zugucken, wie sie mit den Situationen umgehen. Für die praktischen Workshops haben wir eine endlose Liste an Aufgaben und Übungen, die wir nutzen. Wir haben letztens ein Kurrikulum für unterschiedliche Institutionen entwickelt.

RD: Wir wollen nie Grenzen überschreiten – auch nicht die von Schüchternheit. Das berücksichtigen wir: Wie können wir alle miteinbeziehen? Wir wollten nicht, dass nur die Lautesten gehört werden, sondern alle sollen sich durch den Workshop gestärkt fühlen. Im Rahmen des Offenen Forums bei der Tanzplattform haben wir eine anarchistische Diskussionsmethode ausgewählt: Anstatt die Debatte sofort für alle zu öffnen, diskutiert man in Kleingruppen von je zwei, dann vier Menschen, bevor man in der Großgruppe spricht. Das gibt allen die Möglichkeit, teilzunehmen, ohne vor einer großen Gruppe zu sprechen.

FC: Es geht in unseren Workshops darum, Gedanken in Worte zu fassen, eine breitere, produktive Debatte anzufangen. Wir erklären am Anfang: das ist eine Sprechübung, stolpert ruhig über eure Wörter. Wir haben nicht alle Antworten, also erwartet von uns keine Bestätigung. Wir möchten den Menschen einen Gesprächsraum anbieten, in dem sie ihre eigenen Schlüsse ziehen können – es geht immer um Selbstbestimmung.

Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen.  

 

Whistle While You Work

“Whistle While You Work” (“Whistle”) bietet eine Plattform für den Austausch über Belästigung und Diskriminierung gegen Frauen und marginalisierte Gruppen, die im Bereich Tanz und Performance arbeiten. Die Initiatorinnen von “Whistle” werden ein offenes Forum anleiten, in dem die Teilnehmer*innen sich in die Diskussion um Machtmissbrauch einbringen und diese aufzeigen können. Zusammen mit den Teilnehmenden werden in Form eines Manifests konkrete Handlungsansätze formuliert.

18.8., 14:00–16:00 | Bibliothek im August
Initiatorinnen & Moderation: Frances Chiaverini, Robyn Doty
Englisch