Ungehörte Revolutionen

Die Choreografin Aydin Teker auf der Suche nach Wirkung und Sinn

Interview: Gurur Ertem 

Bestimmte Ereignisse haben einen solchen Einfluss auf das eigene Leben, dass manche Gewohnheiten ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Der Gezi-Aufstand von Juni 2013, die größte Demonstrationswelle und zivile Protestbewegung der modernen Türkei, war ein Ereignis, das verschiedene Gruppen und Menschen aus der Isolation in die Öffentlichkeit katapultierte, wo ein Gefühl der „public happiness“.

Hannah Arendt beschreibt „public happiness“ als den „Schatz“ der revolutionären Momente, in denen sich ein Gefühl von Möglichkeiten und Kraft einstellt. Dieser Schatz ist jedoch zerbrechlich, denn er entsteht durch Handlungen, deren Konsequenzen nicht vorhersehbar sind. Politische Aktion ist laut Arendt der Inbegriff der Performance: Sie wird nicht von der Logik des „Mittels zum Zweck“ bestimmt, sondern ist ein Zweck in sich. In dieser Hinsicht ähnelt es einer Performance, in der man das Schauspiel an sich genießt.

Da die Handlungen irreversibel und unvorhersehbar sind, kann der „Schatz“ in den Untiefen der Geschichte verlorengehen. Um eine gemeinsame Welt zu schaffen und das Erbe der revolutionären Momente weiterzuführen, braucht man Perlentaucher („pearl divers“), die den „verlorenen Schatz“ durch Geschichten, Kunstwerke, Poesie und Historiografie verewigen. Damit diese ausgestellt werden können, angesehen und auf eine sinnvolle Weise besprochen, braucht es besondere Räume – eben jene Räume, die die autoritäre Regie und Tyrannei zu vernichten suchen.

Die Kultur-schaffende Spontaneität und Welt-erzeugenden Dimensionen des Aufstands belegen die enge Verknüpfung von Ästhetik und Politik, wie kein künstlerisches Programm in/für/über öffentliche Räume und keine Kunstwerke mit politischen Ambitionen es zu tun vermögen. Im Rahmen meiner langjährigen Recherchearbeit versuche ich zu verstehen, wie eine Gruppe von Künstler*Innen auf die letzten politischen Entwicklungen in der Türkei reagiert oder sie dokumentiert, und wie die Erfahrung von Gezi ihre Praxis nährt oder verändert hat – wenn es denn der Fall ist. Manche selbsternannte Performance-Künstler*innen nutzten die Performativität politischer Aktionen, um im Rahmen der Proteste Arbeiten zu entwickeln, die ein oberflächliche Verständnis von Performancekunst verrieten.

Es gibt natürlich Künstler*innen, die einen anderen Ansatz entwickelten, um die politischen, psychischen und ästhetischen Herausforderungen unserer Zeit zu verarbeiten. Aydın Teker ist in meinen Augen eine von ihnen. Seitdem sie ihren Lehrstuhl an dem Institut für Zeitgenössischen Tanz der Mimar Sinan Universität der Künste vor fünf Jahren aufgab, lebt sie auf dem Land.

Gurur Ertem: Ich hatte am 14. März 2015 die Gelegenheit, "Hallo!“ zu sehen. Damals beschäftigten sich viele Künstler*innen und Akademiker*innen damit, die Angst zu überwinden, die die Unfähigkeit auslöste, die Folgen von Gezi zu verstehen und zu artikulieren. In meinen Augen waren Sie eine der Ersten – und die Schnellste im Tanzbereich –, die diese Erfahrung verarbeitete und sich der Herausforderung stellte, ein angemessenes Format zu finden, um diese Angst choreografische zu fassen.

Aydin Teker: Ich habe in der Tat noch nie so schnell eine Arbeit entwickelt, es hat nur einige Monate gedauert. Ich habe diese Arbeit erbrochen: Sie kam gewissermaßen einfach aus mir heraus, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Ich hatte zwei Jahre lang nicht wirklich das Bedürfnis verspürt, etwas zu machen. Ich entwickle nie "einfach so" eine neue Arbeit. Bei allen meinen Arbeiten bis jetzt konnte ich nicht anders, es musste raus.

GE: Könnten Sie die Entstehung von "Hallo!" in der Zeit nach Gezi beschreiben?

AT: Ich hatte den Eindruck, dass Vieles, was ich bis jetzt getan hatte, keine wirklichen Konsequenzen oder keine Bedeutung hatte. Noch spannender war, dass mir bewusst wurde, das wir eine Minderheit waren! Mir war nie klar, wie steril und geschützt mein Leben war. Natürlich schätzte ich mich immer noch glücklich, das tun zu können, was ich liebe, aber manches ergab für mich keinen Sinn mehr. Die Welt veränderte sich rasant, und ich hatte nicht mehr das Gefühl, Teil davon zu sein. Meine Beziehungen wurden so horizontal, und ich merkte, dass ich nicht die Art von Lehrerin bin, die diese neue Welt braucht. Daher habe ich aufgehört und dachte nicht, dass ich wieder choreografisch arbeiten würde. Aber zu dem Zeitpunkt wurde Gizem Aksu, eine meiner ehemaligen Studierenden, die mich immer fasziniert hatte, mit ihrem Studium fertig. Prinzipiell beteilige ich mich nicht an Arbeit von meinen Studierenden, aber nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatte, wollten wir zusammen ein paar Sachen ausprobieren – es ging dabei nicht so sehr um das Ergebnis, sondern eher um den Prozess, durch den "Hallo" entstand. In einem der Räume in der Schule gab es ein Laufband und Gizem ging damals sehr oft laufen, in Parks und auf der Straße. Wir trafen uns also am Laufband und setzten uns mit Emotionen auseinander. Langsam nahm es Form an. Es war faszinierend, jemandem dabei zuzusehen, wie er 35 Minuten auf einem Laufband läuft. All die Veränderungen, die im Körper, in der Stimmung, im Gesicht stattfinden...

Aydin Teker arbeitet seit über 25 Jahren in Istanbul, und ist noch immer eine der radikalsten Künstler*innen der Türkei.

 

 

Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen dem Laufband und dem Leben: beides fließt kontinuierlich und wird immer schneller, wenn man älter wird...

GE: Sie sind keine Choreografin, die unbedingt für eine black box oder die Theaterbühne arbeitet. Sie haben zahlreiche site-specific Arbeiten entwickelt. Im Laufe Ihrer 40-jährigen Karriere haben Sie auch viel mit Gegenständen gearbeitet, die Ihnen gegeben wurden oder die Sie herstellten, sie waren ein wichtiger Bestandteil Ihrer Arbeit. In einer Ihrer letzten Arbeiten, "HarS" (2008), kommt eine Harfe vor, ein Musikinstrument, das durch die Interaktion mit der Performerin Ayşe Orhon entfremdet wird. In "aKabı" (2005) verändern wahnsinnig hohe Plateauschuhe die Körper der fünf Tänzer*innen. Die Gegenstände werden zu Werkzeugen oder Prothesen, die den Körper verlängern oder mit ihm verschmelzen. In "Hallo!" nehme ich in der Beziehung des Körpers zur Welt der Gegenstände eine Veränderung wahr. Hier ist der Gegenstand kein Werkzeug, sondern eine Maschine, und die Beziehung ist eine der Entfremdung, nicht der Assimilierung.

AT: Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen dem Laufband und dem Leben: beides fließt kontinuierlich und wird immer schneller, wenn man älter wird... Ich finde das Laufband sehr ‘zeitgenössisch’.

GE: Das ist es tatsächlich. Es erinnert mich an unsere überfordernden, schwindelerregenden Zeitpläne. Wir sind diesem konstanten Fluss ausgesetzt, denken aber nicht daran, auszusteigen. Es schafft dieses Gefühl, gefangen zu sein in Geräten, die wir selbst erfunden haben! Sie haben einmal erwähnt, dass Sie sich hier zum ersten Mal mit Emotionen an sich befassen. Als ich die Probe gesehen habe, fand ich, dass viele erzählte Emotionen vorkommen. Gleichzeitig ist es aber eine für Aydın Teker ganz typische Arbeit: die Intensivierung eines einzigen Moments, die progressive Kondensierung und Verstärkung einer bestimmten Stimmung oder einer Bewegung, bis sie ansteckend wird, wie die dunkle Tinte eines Tintenfischs, die sich in der Atmosphäre verbreitet.

AT: Es war kein einfacher Prozess. Ich habe jeden Tag das Trauma, nicht gehört zu werden, neu erlebt. Die Erfahrung von Gezi hat mich mitgenommen. Menschen haben versucht, sich auf eine friedliche, freudvolle Art und Weise Gehör zu verschaffen, aber sie wurden nicht erhört! Ich dachte, das muss ich teilen. Das Bedürfnis, diese Erfahrung zu teilen, hat eine wichtige Rolle gespielt in dem Prozess. Das wichtigste an dieser Arbeit ist, wie viel ich währenddessen gelernt habe. Es war eine Konfrontation mit mir selbst, die mich dazu bewegte, mich zu fragen: Wie viel höre ich? Habe ich meine Studierenden jemals gehört? Inwiefern konnte ich die Menschen, die ich liebe, hören? Und am wichtigsten: inwiefern konnte ich meine Tochter hören? Ich habe diese Arbeit meiner Tochter Çağrı gewidmet. Sie ist wahrscheinlich der Mensch, der mir am nächsten ist, den ich am wenigsten erhört habe. Meine Arbeit hatte immer meine volle Aufmerksamkeit, sie war immer meine Priorität. “Hallo!“ ist eine Form der Entschuldigung... Gleichzeitig ist es eine Frage an andere: Ja, es ist schrecklich, nicht gehört zu werden, aber wie viel wollen oder können Sie selbst die anderen hören?

GE: In welchem Kontext und an welchen Ort sind Sie aufgetreten?

AT: Wir sind in vielen verschiedenen Orten aufgetreten: in einem "Home-office", einer Kaffee-Bibliothek, einer Fabrik... Wir sind in verschiedenen Städten in der Türkei aufgetreten, unter anderem İstanbul, İzmir, Bursa, Eskişehir, Ayvalık… ich glaube, das Stück spricht viele Menschen an, unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Herkunft. Wir wollten so viele Menschen wie möglich erreichen... Es ist aber ein intimes Stück, es muss in kleinen Räumen gezeigt werden, weil es Konzentration, Aufmerksamkeit und Nähe verlangt. Es geht um das Menschsein, es berührt etwas, das wir gemeinsam haben. Dieser Aspekt ist für mich kostbar geworden. Ich glaube, Gezi hat mir in der Hinsicht geholfen, zu wachsen.

Wir müssen uns unser Land zurückholen.

GE: Wie sehen Sie die Lage in der Türkei in Bezug auf Kunst, Tanz und Theater? Haben Sie in der letzten Zeit Aufführungen gesehen?

AT: Ich versuche jedes Mal, wenn ich in Istanbul bin, Arbeiten von jungen Choreograf*innen zu sehen. Ich glaube, manche werden reifer und blühen auf. Ich habe den Eindruck, dass so viel Druck zu einer Explosion führen wird. Wir sollten die Hoffnung nicht verlieren, denn dann hat man nichts mehr. Wir sind alle verantwortlich für die Situation in der Türkei. Wir sind schuldig, weil wir so passiv waren, und nicht früher gemerkt haben, in welche Richtung es ging. Wir haben unsere Werte nicht vehement genug verteidigt. Ich denke, es gibt auch positive Entwicklungen... Wir müssen uns unser Land zurückholen. Ich glaube, es gibt keinen besseren Ort, kein besseres Land, daher dürfen wir uns nichts vormachen. Die ganze Menschheit, das System, ist krank. Es gibt überall ähnliche Entwicklungen. Erst müssen wir uns selbst schützen, dann die Erde, also die Umwelt, den Boden unter unseren Füßen. Vielleicht wird alles besser, aber nicht ohne die Kunst. "Hallo! " hat mich geheilt... Wenn wir in den kleinen Dingen keine Schönheit sehen, können wir nicht existieren, dann verschwinden wir, das wäre eine Niederlage. Stattdessen müssen wir den kleinen Dingen unsere Aufmerksamkeit schenken: der Fähigkeit zu atmen, der Farbe einer kleinen Blume, dem Schrei des Hahns – auch das trägt zu unserem Wohlergehen bei. Die Welt ist kostbar und wir dürfen nicht aufgeben. 

Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen. 

Anm. der Übersetzerin: „public happiness“ und „pearl divers“ sind zwei Begriffe von Hannah Arendt aus "On Revolution", das sie auf Englisch schrieb, daher wurde der Originalbegriff beibehalten.

Aydin Teker Hallo!

22.–24.8., 19:00 | 25.8., 17:00 | HAU3
Deutschlandpremiere