Programmeinführung von Ricardo Carmona
Ein Festival ist, wie ein Archipel, ein Verbund verschiedener Kreationen, mit jeweils einzigartigen Landschaften und Geschichten. Trotz ihrer Individualität gehen die künstlerischen Arbeiten eine enge Verbindung ein und bilden gemeinsam ein Ganzes. Wie Insulaner*innen kommen auch die einzelnen Elemente des Festivals in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zur vollen Entfaltung. In dieser Vision des Archipels trägt jede künstlerische Arbeit zum erzählerischen Reichtum des Festivals bei. Jede Insel oder jede Produktion dient den Künstler*innen als Bühne, um die verborgenen Strömungen im Ozean unserer Zeit miteinander zu verbinden.
Wenn sich das Publikum auf die Reise von Tanz im August begibt, ist es – sind Sie – eingeladen, einzutauchen und zu erleben, wie an der Schnittstelle von Kunst, Tradition und Erzählung lebendige Ausdrucksformen entstehen. So wie Küsten von den Strömungen der sie umgebenden Meere geformt werden, so werden Menschen und Kulturen von Geschichte, Erinnerungen und Begegnungen geprägt. Über die Weiten der Meere hallen Stimmen wider, und Narrative verflechten sich zu Szenen geteilter Erfahrungen und Schicksale.
Auf unserem Weg von Insel zu Insel tragen wir Erinnerungen mit uns. Mehrere Produktionen der diesjährigen Festivalausgabe finden sich zu einer Geschichtensammlung, die von Vorfahr*innen, verlorenen Zeiten, Migration und zukünftigen Wegen berichtet. Dorothée Munyaneza beschwört den rotblühenden Umuko-Baum, der traditionell als Heiler und Bewahrer von Geschichten gilt, um eine neue Zukunft zu zeichnen. Tamara Cubas erzählt die Geschichten der Migration von Frauen aus verschiedenen Ländern. Soa Ratsifandrihana begibt sich auf einen Streifzug durch das Leben in der Diaspora. Francisco Camacho & Meg Stuart erkunden antike Ruinen auf der Insel Sardinien und finden Gefühlslandschaften. Amanda Piña taucht ein in vergessene Biografien und bringt ein Denkmal der People of Color in der europäischen Tanzgeschichte ans Licht.
Geschichten lassen sich mit unterschiedlichen Mitteln und Medien erzählen: Marco D’Agostin schreibt einen Brief an eine Person, die ihn nicht mehr empfangen kann, Rita Mazza erforscht die intime Beziehung zwischen Stimme und Tauber Identität, und Alessandro Sciarroni führt uns durch eine Landschaft aus Träumen, Bewegungen und tiefen Verbindungen jenseits von Worten.
Tanz kann eine Verkörperung unserer Verbundenheit mit der Umwelt aufzeigen und ein Ausdruck für ökologisches Bewusstsein sein. Auch in diesem Jahr lassen sich die Künstler*innen von der Natur inspirieren. Michelle Moura hinterfragt die fortschreitende Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch den Menschen und lässt sich dabei von nicht-eurozentrischen Perspektiven inspirieren. Jérôme Bel & Estelle Zhong Mengual führen durch den westlichen Kanon der Tanzgeschichte und zeigen, wie nicht-menschliche Lebensformen und Naturphänomene dargestellt wurden. Christos Papadopoulos bildet die unterirdischen Netzwerke von Pilzen und die Bewegungen von Vogel- oder Fischschwärmen nach.
Die Arbeiten anderer Künstler*innen reflektieren die heutige, sich in Problem- und Notlagen befindende Menschheit. Jefta van Dinther entführt uns in eine immersive Installation, die Eskapismus, Deepfakes und unsere Abhängigkeit von Maschinen thematisiert. Viktor Szeri untersucht, welche Auswirkungen die heutige Welt auf uns hat, und überlässt seinen Körper den Auswirkungen der Erschöpfung. KOR’SIA begibt sich auf die Suche nach einem erneuerten Konzept des Humanismus, einer Hoffnung jenseits der Gegenwart.
Auf unserer Reise durch verschiedene Gewässer und Zeiten begegnen wir auch unterschiedlichen Abstammungslinien von Tanz. Yinka Esi Graves arbeitet mit den Wurzeln des Flamenco. Mette Ingvartsen erforscht das choreografische Potenzial von Skateboards und Rollschuhen, und Amala Dianor zollt Urban-Dance-Kulturen und Social-Media-Choreografien Tribut. Outbox Movement vereint eine Vielzahl von Tanzformen in einem für Beteiligung offenen Battle-Format unter freiem Himmel.
Diese künstlerischen Arbeiten schicken Wellen über Wellen hinweg, erzeugen Bewegungen, die sich in rhythmischen Echos kräuseln und zu Strömungen formen. Sie werden zu Gesten des Widerstands, zu einem Appell an die kollektive Verantwortung. Das diesjährige Festival gibt uns nicht nur eine Karte des Ist-Zustands der Welt an die Hand, sondern auch einen Kompass, der uns den Weg zu einer anderen möglichen Welt weist. Einer Welt, in der Unterschiede wertgeschätzt und Beziehungen gepflegt werden. Eine Welt, in der die Bande der Solidarität militärische, kulturelle und geografische Grenzen überwinden.
Ricardo Carmona
Künstlerische Leitung & Team Tanz im August
April 2024