Tanzfabrik

30 Jahre Festival “Tanz im August” und 40 Jahre “Tanzfabrik Berlin” – in diesem Jahr gibt es viel zu feiern. Beide gehören zur neueren Berliner Tanzgeschichte wie die drei Ballettkompanien, aus denen nach der Wende und viel Streit das Staatsballett Berlin wurde. Weit, sehr weit entfernt von dem, was an den großen Opernhäusern Ende der 70er Jahre zelebriert wurde, schafften sich vier Tanzbegeisterte ihren eigenen Raum, mieteten eine Fabriketage in Berlin-Kreuzberg und bauten sich ihr Tanz- und Lebensstudio:

“Der unwirtliche Weg über den düsteren Hinterhof des Hauses Möckernstraße 68 führt drei Treppen hinauf zu einer frisch erblühten Oase in der Tanzwüste Berlins. In den Räumen der ehemaligen Lampenfabrik Kindermann, einer späteren Schuhfabrik, baut ein junges Viererteam auf 380 Quadratmetern (zu einem Traum-Quadratmeterpreis von 1,76 DM) einen Ort des bewegten Aufbruchs: die Tanzfabrik, Zentrum für modernen Tanz, Improvisation und experimentelle Tanzformen; ähnlich der jüngsten Avantgarde in den New Yorker Lofts suchen Gleichgesinnte in proletarischer Nachbarschaft die Utopie, Kunst und Alltag zu verbinden. Ein alternatives Lebensmodell. Offen für alle brodelt hier die Lust am körperlichem Ausdruck, an spontaner, auch naiver Mischung bildender, akustischer und darstellender Künste, an physischer Berührung in der Contact Improvisation.” 
Aus: “20 Jahre Tanzfabrik  - nicht nur eine Tanzgeschichte” von Irene Sieben, in “Tanzfabrik - Ein Berliner Modell im zeitgenössischen Tanz 1978-1998”

“Everybody Dances”, dieser Auftakt von Christine Vilardo am 29. November 1978 war programmatisch zu verstehen. Der Tanz, die Bewegung als offenes Feld für Experimente zu begreifen, trieb nicht nur Berliner*innen um. Am 7. November 1978 eröffnete Douglas Dunn mit “Gestures in Red” das neu gegründete Festival “Dance Umbrella” in London, finanziert vom Arts Council.

Von einer öffentlichen Finanzierung konnten die tapferen Vier (Reinhard Krätzig, Helmut Kugel, Christine Vilardo, Horst Zinsmeister) in der Möckernstraße nur träumen, aber sie träumten nicht lange allein. Schnell fanden sich Mitstreiter*innen. Nicht wenige ohne Tanzausbildung. Sport, Biologie, Medizin, Musik... sie schmissen das wenig geliebte Studium, die akademische Karriere und verschrieben sich dem Kollektiv Tanzfabrik, das sich 1980 als Verein gründete: selbstverwaltet und selbstorganisiert. D.h. alle machen alles. Manche mehr, manche weniger, sprich dieses Modell verlangte starke Nerven und einen langen Atem. Unter dem Dach der Tanzfabrik konnte gelebt, geliebt, gelernt, getanzt geprobt, gezeigt werden.

Vor aller Augen öffnete sich eine unbekümmerte Tanzwelt, ohne Regeln, ohne Tabus, und das sprach sich herum. Wer nach West-Berlin kam und nach Tanz suchte, landete unweigerlich in der Möckernstraße. Waren es in den ersten beiden Jahren noch zwei Stücke pro Jahr, schnellte die Anzahl im Jahr 1980 auf sechs und pendelte sich auf mehrere Stücke pro Jahr ein. Je nach Finanzlage. Der Senat tat sich mit einer kontinuierlichen Förderung schwer, denn die sogenannte “Off-Szene” oder “Freie Szene” war noch kein feststehender kulturpolitischer Begriff und ein stabiles Fördersystem noch nicht eingerichtet.

Der Erfolg der Tanzfabrik speiste sich nicht nur aus ihrer Produktivität, sondern auch aus der Offenheit ihrer “Schule”. Contact Improvisation, Body-Mind-Centering, wer die neuesten Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz kennenlernen wollte, war hier richtig. Die Tanzfabrik etablierte sich als Ort der Tanzavantgarde und das blieb natürlich auch Nele Hertling nicht verborgen. Claudia Feest, Mitbegründerin der Tanzfabrik, erinnert sich:

O-Ton Claudia Feest

“Nele Hertling hat ja zusammen mit Dr. Dirk Scheper das Festival PMTT kuratiert und geleitet und im Rahmen dieses Festivals bin ich ihr das erste Mal begegnet, meine ich. Wir haben die Tanzfabrik 1978 gegründet und auf den Weg gebracht und da war ja klar, dass man guckte, was kommt an Tanztheater in die Stadt und da war das das wichtige Festival und in dem Rahmen bin ich Nele begegnet. Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal mit ihr gesprochen habe. Aber da gab es natürlich die Diskussionen, was eingeladen wird, über die Gruppen aus Amerika, das Interessante, die neuen Impulse, die sie eingeladen haben und da kam man auch ins Gespräch ganz schnell über die kulturpolitische Situation hier. Was können hier die freischaffenden Tänzer*innen, Choreograf*innen, was kann die Tanzfabrik machen – sich einbringen, um Probenräume anzubieten, Arbeitsmöglichkeiten mit anderen Tänzer*innen zu gestalten – und in dem Zusammenhang gab es die ersten Diskussionen, also die freie Arbeit im Tanz war ja damals erst mal gar nicht möglich. Außer man hat sich den eigenen Probenraum selbst gebaut, so wie wir es in der Tanzfabrik gemacht haben. Und das hat Nele Hertling von Anfang an, als sie davon erfuhr, von unterstützt.”

Als Nele Hertling 1986 zusagte, das Programm für die “Kulturstadt Europa”, E 88, zu leiten, holte sie die Tanzfabrik ins Boot. Die hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits von dem Modell “unter einem Dach leben und arbeiten” verabschiedet, die Wohngemeinschaft war aufgelöst. Das Prinzip “alle machen alles” wurde zu den Akten gelegt, die Tanzfabrik professionalisierte ihre Arbeit. 

Jacalyn Carley, die 1979 ihre Choreographie “Ch-Ch-Ch-Changes” in der Tanzfabrik herausbrachte und fortan dabei war, erinnert sich: 

O-Ton Jacalyn Carley

“Zu E 88, da existierten wir schon gute zehn Jahre, kam Nele Hertling auf uns zu aus der Akademie der Künste... ob wir nicht ein Konzept dazu einreichen wollten. Und u.a. ein Konzept war, dass es nicht nur nach Berlin geholt werden sollte, sondern auch Workshops geben sollte. Das war unser Konzept. Die Fabrik stand dafür: Workshops von allen, die gekommen sind. Du kannst nicht nach Berlin kommen, ohne dass du und deine Kompanie mit uns zu tun haben und dass du was der Szene schenkst sozusagen.”

Was sich so einfach anhört, war mit unglaublich viel Arbeit verbunden. Videos anschauen, Gruppen einladen, Bewerber*innen aussuchen – und die sollten möglichst keine Anfänger sein. Eine Entscheidung, die intern strittig war. Denn als “elitär” sollte die Tanzfabrik auf keinen Fall rüberkommen. Aber die Workshops waren nur ein Teil des umfangreichen Konzepts von Jacalyn Carley, Dieter Heitkamp und Bob Rease:

Am Telefon saßen die beiden Projektkoordinator*innen Ulrike Becker und André Thériault und verzahnten die Organisationsebenen von E 88/TanzWerkstatt und Tanzfabrik. Die präsentierte sich im E 88 Programm mit zwei Stücken:

“Whodidwhattowhomwasneverreallyclearandisn’tittheawfultruth“ von Dieter Heitkamp und “RUT2“ von Jacalyn Carley. Sie waren sozusagen der deutsche Beitrag im “European Dance Contest“. Dieter Heitkamp in einem Interview am 17. Juni 1988: 

O-Ton Dieter Heitkamp Interview vom 17.6.1988

“Was ich entdecken konnte während dieser Werkstatt, war, dass französischer Tanz sehr französisch ist, dass italienischer Tanz sehr italienisch ist, holländischer Tanz holländisch ist und dass englischer Tanz englisch ist. Wo jeweils schon die Kultur einen Einfluss darauf gehabt hat, wie diese Gruppen ausgeschaut haben. Dass die Franzosen sehr auf Design geachtet haben, sehr modisch waren und dass sie vom Bewegungsvokabular sehr straight technisch drauf waren, ja, das fand ich sehr französisch. Die Italiener mit ihrer Mischung aus High-Tech und sehr gewöhnlichen Bewegungen fand ich eine ganz andere Sache. Und genauso anders fand ich die Engländer, die manchmal sehr plüschig waren, oder wo es dann eher Richtung Cabaret ging. Ich weiß nicht, ob das, was wir gemacht haben, spezifisch deutsch war, aber ich denke, dass es jeweils sehr eigenständige Sachen waren.”

In der Tanzfabrik selbst lief das Programm wie gewohnt weiter – E 88 hin oder her: trainieren, choreographieren, unterrichten, organisieren und Stücke zeigen. Die Idee des Kollektivs wurde mit dem Stück “Kompaß durch den Sumpf” 1989 auf die Spitze getrieben, einer gemeinsamen Choreografie aller mitwirkenden Tänzer*innen und Musiker*innen.

Die Tanzfabrik, mittlerweile vom Senat gefördert, war in der ersten Hälfte der 90er Jahre unglaublich produktiv. Aber der Tanz war das eine, der Alltag das andere. Der (sogenannte) Fall der Mauer machte aus zwei (hochsubventionierten) Stadthälften eine verarmte Stadt und die Folgen machten sich in der Kultur Jahr für Jahr deutlicher bemerkbar. Der Tanzfabrik wurde die Förderung gekürzt und die Miete in der Möckernstraße erhöht. Über die Strategien, wie mit dieser neuen Situation umgegangen werden sollte, entbrannte heftiger Streit. 1995 übernahm Claudia Feest allein die künstlerische Leitung. Eva-Maria Hörster wurde Produktionsleiterin. Das Kollektiv verwaltete nicht länger das Geld und besiegelte das Ende des Selbstverwaltungsmodells. Jacalyn Carley und Dieter Heitkamp, beide Schlüsselfiguren, verließen die Tanzfabrik nacheinander. Die einst so fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der TanzWerkstatt und der Tanzfabrik veränderte sich natürlich auch.

In den Ausgaben von 1989 bis 1993 ist die Tanzfabrik als Mitveranstalter im Impressum aufgeführt, aber von 1994 bis 1998 werden nur noch Claudia Feest und Dieter Heitkamp erwähnt. Ab 1999 war nur noch Claudia Feest als “workshop-Mitarbeiterin“ dabei. Ende 2003 verließ auch sie die Tanzfabrik und die häutete sich wieder einmal. Höchstwahrscheinlich ist diese Fähigkeit das Überlebensgeheimnis der Tanzfabrik seit 40 Jahren.